(Dieser Artikel ist heute zeitgleich beim Overton-Magazin erschienen)
Norbert Blüm war ein mutiger Mann. Und er war, obwohl CDU-Mitglied, einer der wenigen, die wussten, dass nur eine vernünftige Absicherung der Menschen im Alter der Gesellschaft und dem Wirtschaftssystem so viel Legitimation verschafft, dass sich auch die nächsten Generationen bemühen werden, das Große und Ganze am Laufen zu halten.
Die Sicherheit des Systems, die er mit seinem berühmten Wort über die „sichere Rente“ meinte, war natürlich Sicherheit in einer Welt großer Unsicherheit. Bei der Rente geht es immer um die Zukunft und die ist prinzipiell unsicher. Wer sagt, die Rente sei sicher, meint, sie sei so sicher wie irgendetwas in einer unsicheren Welt sein kann. Die objektiv gegebene Unsicherheit kann kein System der Welt verhindern.
Derzeit gibt es wieder eine große Rentendebatte, weil von vielen „Experten“ der Eindruck vermittelt wird, das sogenannte Umlagesystem, dem man in Deutschland den Großteil der Renten anvertraut, sei in einer Krise, weil es in Zukunft mehr Rentner und weniger Aktive geben wird. Doch Alterung der Gesellschaft gehört nicht zu den Faktoren, die ein solches Rentensystem fundamental in Frage stellen, wenn auch die Jungen begreifen, was auf dem Spiel steht. Doch mit dem Begreifen ist es schlecht bestellt. Deswegen einige logische Grundlagen.
Das Umlageverfahren
Das Umlageverfahren wirkt wie eine Steuer. Der Staat nimmt Beiträge von den Arbeitenden und zahlt (beides via staatlich kontrollierte Rentenversicherung) die Renten der Ruheständler. Er tut das, weil die heutigen Ruheständler dadurch Anrechte auf eine Rente erworben haben, dass sie selbst, in ihrer Zeit als Aktive, Beiträge geleistet haben. Das ist das, was häufig Generationenvertrag genannt wird. Die junge Generation alimentiert die alte, weil die alte selbst ihre Pflicht getan und einst eine alte Generation alimentiert hat.
Wenn die Wirtschaft wächst, es keine Arbeitslosigkeit gibt und das Verhältnis der Alten zu den Jungen etwa gleichbleibt, können die Renten im Einklang mit den Einkommen der Aktiven steigen, so dass das Verhältnis zwischen dem Einkommen der Aktiven und dem der Rentner gleichbleibt. Dann sagt man, sei das Rentenniveau stabil, und das ist das Beste, was man erreichen kann.
Gibt es allerdings Massenarbeitslosigkeit, also viele Aktive, die weniger Einkommen erzielen, weil sie nicht so viel arbeiten können, wie sie möchten, geht die Rechnung nicht mehr auf. Dann müssen die noch Aktiven höhere Beiträge bezahlen, um die Rentner so wie vorher zu alimentieren. Aber auch bei Vollbeschäftigung kann der Fall eintreten, dass es in einer Gesellschaft für einige Zeit aus Gründen der Demographie mehr Alte und weniger Junge gibt. Auch dann müssen die aktiven Jungen mehr bezahlen, um das Rentenniveau stabil zu halten.
Mehr bezahlen
Doch was bedeutet es, wenn die Jüngeren „mehr bezahlen“ müssen? Nun, auch wenn die Wirtschaft stetig wächst und es keine Arbeitslosigkeit gibt, die Realeinkommen der Arbeitnehmer und der Rentner also dauernd steigen, kann man nicht ausschließen, dass die Beiträge steigen müssen. Einer Phase der Alterung der Gesellschaft kann das notwendig machen. Dann stellt sich die Frage, ob das für die heute Arbeitenden verkraftbar ist.
Leben wir in einer Welt, in der die Einkommen relativ stetig zunehmen, weil die Produktivität stetig zunimmt, sind höhere Beiträge nicht einfach gleichzusetzen mit einer objektiv höheren Belastung. Es ist nämlich die Frage, ob eine Erhöhung der Beiträge von 20 Prozent auf 22 Prozent von einem (real berechneten) Monatseinkommen von 10 000 € genauso schmerzhaft ist wie die gleiche Erhöhung bei einem Realeinkommen von 3000 €. Jeder vernünftige Mensch kann diese Frage ohne weiteres beantworten. Selbstverständlich ist eine Erhöhung der Beiträge von 20 auf 22 Prozent bei einem Einkommen von 10 000 € viel leichter verkraftbar, da es nur um eine kleine Einschränkung von Luxusausgaben geht, aber nicht an der Existenzgrundlage des Einkommensempfängers kratzt.
Schwindelerregende Höhen?
Genau diese einfache Einsicht aber will der neoliberal-libertäre Mainstream nicht wahrhaben. Für sie sind es die Leistungsträger (also in ihrer Sichtweise die wohlhabenden Teile der Gesellschaft und die Unternehmen), die auf keinen Fall belastet werden dürfen. Deshalb ist für sie eine zusätzliche Belastung der Beitragszahler von vorneherein tabu. Folglich kämpfen sie mit allen Mitteln für die Absenkung des Rentenniveaus oder um „Reformen“, wie die Rente ab 70, die die Last der Arbeitslosigkeit und des Alterungsprozesses einseitig den Rentnern aufbürdet. Leider haben sich große Teile des politischen Spektrums diesen ideologischen Bären aufbinden lassen.
Martin Werding etwa, Mitglied des Sachverständigenrates und „Rentenexperte“, stellt lapidar fest: „Wir haben lange gesagt, dass die Summe der Sozialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent bleiben soll. Mittlerweile haben wir 42 Prozent überschritten und zum Ende dieser Legislaturperiode werden die 45 Prozent in Sicht sein – mit weiter steigender Tendenz“. Seine Kollegin, Veronika Grimm, ist sich sicher, dass Leistungen müssen gekürzt werden müssen, sonst würden „die Sozialabgaben schwindelerregende Höhen“ erreichen. Eine Kommission von Rentenexperten kommt im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung (FDP) zu dem Ergebnis: „Ohne Reformen droht der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung bis 2050 von 18,6 Prozent auf 22 Prozent zu steigen – mit gravierenden Folgen für Beschäftigte und Unternehmen.“
Alle sind sich einig, die Beiträge müssten steigen, aber sie dürfen nicht. Doch wo genau liegt das Problem? Wenn die Beiträge der Arbeitnehmer in kleinen Schritten von 9,3 auf elf Prozent steigen und die der Arbeitgeber in gleichem Maße, wie genau würde die Wirtschaft dann untergehen? Wem würde schwindelig werden? Welche gravierenden Folgen gäbe es für Beschäftigte und Unternehmen? Und warum haben „wir“ (wer immer das sein mag) eigentlich gesagt, dass die Summe der Sozialversicherungsbeiträge für alle Zeit unter 40 Prozent bleiben soll?
Ich habe schon in einem Papier von 2005 beschrieben, auf welche Weise die „Lohnnebenkosten“ von den liberalen Ideologen zu Superkosten erklärt werden, bei denen jede Erhöhung ganz schreckliche Folgen hat. Das ist rein neoliberal-libertäre Ideologie und ein Schwindel! Schwindelig wird nur diesen Liberalen, weil sie unbedingt ihre Klientel schützen wollen und absurde Vorstellungen davon haben, wie die Wirtschaft funktioniert. Wer sich davon ins Bockshorn jagen lässt (Hallo SPD!), der beweist nur, dass er noch weniger über Wirtschaft weiß als die Liberalen.
Beitragserhöhungen sind das Einzige, was wirklich hilft, wenn die Zahl der Einzahler in die Rentenversicherung sinkt oder deren Einkommen schrumpft. Das ist aber vollkommen unproblematisch, wenn gesichert ist, dass sich die Wirtschaft auf längere Frist vernünftig entwickelt. Die Zahl der Einzahler zu erhöhen (durch die Einbeziehung von Selbständigen und Beamten), bringt dagegen nichts, weil sie ja früher oder später auch wieder Empfänger von Renten werden.
Wer sich partout gegen höhere Beiträge sträubt, muss der Rentnergeneration erklären, dass es für ihn untragbar ist, selbst bei einem höheren Einkommen, als es die Rentnergeneration je hatte, ein wenig mehr für die Rentenkasse aufzubringen. Wenn er keine liberalen Ideologien über Beschäftigungsverluste und ähnlichen Unsinn vorbringt, wird das nicht leicht. Es ist ja gerade das Fehlen von guten Argumenten, das die Liberalen dazu bringt, mit der großen Ideologiekeule wild um sich zu schlagen. Nach dem Motto: Komme bloß keiner auf die Idee, ernsthaft unsere Position zu hinterfragen – denn sie ist unglaublich schwach.
Höhere Beiträge sind unumgänglich und unproblematisch
Wenn man das System reformieren will, also dafür sorgen will, dass das Rentenniveau, das in den vergangenen zwanzig Jahren dramatisch gefallen ist, wieder eine vernünftige Größenordnung erreicht, muss man die Beitragssätze diskutieren. Das tun allerdings auch die Linken nicht gerne, weil sie uns häufig glauben machen wollen, es gäbe ein paar andere Tricks, mit denen man das Ziel erreichen kann, ohne die heute arbeitende Generation zu belasten.
Das größte aller Problem ist, dass wir seit über 40 Jahren (Kohl, Schröder, Merkel, Scholz und Merz) Regierungen haben, die nicht die geringste Vorstellung davon haben, wie man eine offenkundig unter Nachfragemangel leidende Wirtschaft ankurbelt (wie u. a. hier und in meinem Grundlagenbuch gezeigt). Der andauernde und irreführende Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit hat die Fähigkeit Deutschlands und der EU, auf die wirtschaftlichen Herausforderungen angemessene Antworten zu geben, total zunichte gemacht. Ohne ein Umschwenken hier, ist in der Rentenfrage kein Land in Sicht.
Was darüber hinaus gar nicht geht, ist die Privilegierung der Beamten, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten herausgebildet hat. Ohne große Unruhe in der Bevölkerung zu stiften, kann man nicht das allgemeine Rentenniveau auf unter 50 Prozent drücken und die Pensionen der Beamten bei über 70 Prozent belassen. Hier ist eine Angleichung unumgänglich und der größte Teil davon muss dadurch zustande kommen, dass das allgemeine Rentenniveau wieder deutlich auf über 60 Prozent ansteigt.
Was auch überhaupt nicht geht, ist Kapitaldeckung. Das habe ich aber so oft schon erklärt (hier zuletzt und in meinem Grundlagenbuch), dass ich mich nicht wiederholen will.