(dieser Artikel ist heute auch auf den Nachdenkseiten erschienen)
Albrecht Müller hat auf den Nachdenkseiten kritisiert, ich hätte in meinem Buch eine Richtung der Ökonomik übersehen, die er „Theorie der Marktwirtschaft“ nennt oder welfare economics, die vor allem mit dem Namen Vilfredo Pareto verbunden ist. Offenbar vermutet er, es gebe eine Mikroökonomik, die vollkommen neoklassisch ist, und dazu eine Makroökonomik, die sich aus ganz anderen Quellen speist. Das ist ein gravierendes Missverständnis.
Die optimale Allokation der Ressourcen, die man mit dem Namen Pareto verbindet, baut auf dem Modell des allgemeinen Gleichgewichts auf, das Leon Walras entwickelt hat. Dessen Theorie wird von mir explizit und ausführlich kritisiert, denn sie ist der Kern der Neoklassik mit all ihren Konsequenzen.
Man kann sich das allgemeine Gleichgewicht, das schließlich zur „optimalen Allokation aller Ressourcen“ führt, am besten wie einen Dorfplatz vorstellen, an dem sich alle in irgendeiner Form wirtschaftenden Menschen jeden Morgen treffen und die von ihnen produzierten Güter tauschen. Der eine bringt Früchte, der andere Gemüse, der Dritte Korn und der Vierte bringt Fleisch. Das tauschen sie in jeder Periode so lange, bis – entsprechend Ihrer sehr einfachen Bedürfnisse – die optimale Allokation der vorhandenen Güter erreicht ist und damit der Nutzen, den diese Güter stiften konnten, optimiert ist.
Bedenkt man noch, dass die Produktion womöglich negative Effekte auf die Umwelt hatte und macht den Produzenten Auflagen, so dass sie die Kosten für deren Beseitigung mit in die Preise einrechnen, hat man die beste aller Welten erreicht, nämlich das Pareto-Optimum. Zwischen diesen periodischen Handelsaktivitäten passiert nichts, was die einzelnen Marktteilnehmer jenseits ihrer Produktion zu beachten hätten. Der Tausch geht vollkommen zeitlos bis in alle Ewigkeit.
Auf diesem Marktplatz braucht man Geld nur, weil es das Rechnen erleichtert, ansonsten kann alles in „real terms“ betrachtet werden, also drei Äpfel gegen ein Pfund Kartoffeln. Es gibt keine Unternehmen bzw. nur solche Institutionen, die niemals einen Gewinn und niemals einen Verlust machen und niemals etwas eigenständig entscheiden. Es gibt keine Entwicklung, es gibt keine Unsicherheit, es gibt kein Sparen und kein Investieren, es gibt keinen Finanzmarkt und es gibt keine grenzüberschreitenden Transaktionen. Es gibt keine wirtschaftliche Macht und keine Politik, die Fehler machen könnte.
Nicht umsonst habe ich Joseph Alois Schumpeter den allergrößten Raum in meinem Buch eingeräumt. Schumpeter hat sich in seinem Werk über die Entwicklung von Volkswirtschaften die Mühe gemacht, auf 70 Seiten diesen vollkommen stationären Marktplatz und seine Implikationen zu beschreiben, um danach zu zeigen, dass er nichts, aber auch gar nicht mit der realen Welt zu tun hat. Doch dieser Einsicht verweigern sich die Neoklassiker seit weit über hundert Jahren. Darüber nachzudenken, hätte ihre heile Welt ins Wanken gebracht und ihren festen Glauben an den Markt als herrschaftsfreie und deswegen gerechte Institution.
In der wirklichen Welt jedoch kämpfen Unternehmen gegeneinander um Macht und Marktanteile bis zu dem Punkt, wo ein Unternehmen den Konkurrenten endgültig vernichtet hat. Im richtigen Leben kämpfen die Arbeitnehmer, die sich zusammenschließen müssen, um überhaupt etwas erreichen zu können, mit den Arbeitgebern darum, am gemeinsam erwirtschafteten Ergebnis beteiligt zu werden. Es gibt in diese Welt auch keinen Stillstand, keine endgültigen Transaktionen, keinen vergleichbaren Nutzen und keine Befriedigung objektiv vorhandener „Bedürfnisse“.
In der Welt, in der wir leben, gibt es keinen Zins, der Ersparnis und Investitionen zusammenbringt, keinen Lohn, der den Arbeitsmarkt ausgleicht, keinen Wechselkurs, der rationale internationale Transaktionen erlauben würde und schließlich keine Regierungen, die genügend Einsicht in die Zusammenhänge hätten und in der Lage wären, dieses extrem komplexe und explosive System zu stabilisieren. Das ist der Kern meiner Kritik an der Neoklassik.
Man kann ruhig weiter vom herrschaftsfreien Marktplatz träumen, wenn man aber wirtschaftspolitische Empfehlungen daraus ableitet, dann wird es gefährlich. Wenn man etwa sagt, es sei doch durchaus sinnvoll, Leistungsbilanzdefizite zu haben, weil man billige Güter aus dem Ausland bekommt, die man sonst unter großen Mühen zuhause hätte herstellen müssen, dann schließt man vom Marktplatz auf die wirkliche Welt und macht gewaltige Fehler. Man interpretiert dann einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit, der tatsächlich Teil eines dynamisch verlaufenden Prozesses ist, als statisches und zugleich stabiles Ergebnis des Tausches auf dem Marktplatz. Das führt total in die Irre.
Offenkundig ist dieser Fehler bei der Interpretation von Leistungsbilanzsalden. Hier hat man es in den Augen der Neoklassik mit Tausch zu tun, der eine liefert etwas und bekommt dafür etwas von einem anderen. In diesem Sinne ist es in der Tat fragwürdig, die eigenen Produkte billig oder zu billig anzubieten. Doch darum geht es in der Wirklichkeit ja gar nicht. Es geht nicht um den Leistungsbilanzsaldo als solchen (also um den Tausch zu einem bestimmten abgegrenzten Zeitpunkt) sondern um einen Prozess, bei dem die Produzenten in einem Land zulasten der Produzenten in einem anderen Land billige Produkte anbieten, Marktanteile gewinnen und schließlich die ausländische Industrie und deren Arbeitsplätze dem Erdboden gleich machen.
Das beste Beispiel für einen solchen Prozess ist immer noch der deutsche Leistungsbilanzüberschuss, der durch Lohndumping in der Währungsunion möglich wurde und den Nachbarländern gewaltigen Schaden zugefügt hat, weil sie gegenüber Deutschland auf Dauer Marktanteile, Arbeitsplätze und Einkommen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer verloren haben. Hinzu kommt, worauf ich hunderte Male hingewiesen habe, dass sich Deutschland nur wegen des Überschusses erlauben konnte, seine staatlichen Finanzen in den 2010er Jahren zu sanieren. Das möge man einmal mit der „Theorie der Marktwirtschaft“ erklären.
Mit dem Hinweis auf einen günstigen statischen Tausch kann man auch ganzen Entwicklungsländern den Garaus machen. Wie ich in meinem Gespräch mit Markus Karsten erzählt habe, hat man das Land Tahiti dazu gebracht, billige amerikanische Baumwolle einzuführen, obwohl man eine eigene funktionierende Baumwollwirtschaft hatte. Als die heimische Baumwollproduktion durch billige Importe zum Erliegen kam, hatte die Neoklassik nichts als sinnfreie Sprüche zu liefern (und tut das heute noch jeden Tag durch den Internationalen Währungsfonds rund um die Welt). Der Markt werde schon dafür sorgen, dass man eine andere Nische findet (via komparative Vorteile!) und wenn es tatsächlich Arbeitslosigkeit gibt, müssen die Löhne nur flexibel genug sein, dann wäre auch das kein Problem.
Nein, es gibt keine zwei verschiedenen Ansätze der Ökonomik, wo der eine auf der Ebene der Mikroökonomie bleibt und der andere die Makroökonomie abdeckt. Man muss die Neoklassik vollständig zur Seite legen, wenn man eine konsistente Theorie liefern und vernünftige wirtschaftspolitische Ratschläge geben will. Albrecht Müller sollte sich die Mühe machen, mein Buch zu lesen.