Die Faktenverweigerer

In diesen Tagen wird viel über Fakten geschrieben und diskutiert. Jeder glaubt, über die „richtigen“ Daten zu verfügen und befugt zu sein, andere zu verunglimpfen, weil sie die „falschen“ Daten benutzen. Es gibt „Faktenchecker“, die – zumeist von großen Medien beauftragt – nichts anderes tun, als zu überprüfen, ob die ein oder andere Faktenaussage, die in der Öffentlichkeit auftaucht, auch von der Realität gedeckt ist. Natürlich geht es dabei um die Fakten, die der Faktenchecker für wichtig hält.

Eine viel wichtigere und viel weiter verbreitete Methode der Manipulation der öffentlichen Meinung wird allerdings vollkommen übersehen. Es ist die Faktenverweigerung oder das Verschweigen entscheidender Fakten bzw. zentraler Zusammenhänge. Um die Faktenverweigerung aufzudecken, genügt es freilich nicht, sich bestimmte Daten anzuschauen und zu überprüfen, ob deren Existenz durch alle möglichen Quellen untermauert ist. Man muss sich mit den hinter den bloßen Fakten stehenden Zusammenhängen auseinandersetzen und fragen, ob der Autor bewusst oder unbewusst die seinen Vorstellungen entgegenlaufenden Fakten ignoriert hat. 

Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss – ein Tabu

Das eklatanteste Beispiel für das Verschweigen eines enorm wichtigen Tatbestandes ist der deutsche Leistungsbilanzüberschuss. Gab es vor einigen Jahren noch immer mal wieder internationale Kritik daran (man erinnere sich an einen gewissen Donald Trump), die von der Phalanx des medial-politischen Komplexes in Deutschland allerdings sofort energisch zurückgewiesen wurde, ist es durch konsequentes Verschweigen mittlerweile gelungen, dieses Thema vollständig aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Von links bis rechts schweigt man einfach dazu und erweckt folglich den Eindruck, der deutsche Überschuss sei eine vollständig akzeptable und akzeptierte Normalität geworden, die nichts und niemanden behindere. 

Der deutsche Überschuss im Außenhandel ist aber ein glatter Verstoß gegen die von allen Mitgliedstaaten vereinbarten Regeln in der europäischen Währungsunion. Die EU-Kommission hat es aber anscheinend aufgegeben, den mächtigsten Mitgliedstaat wenigstens an seine Pflichten zu erinnern, von möglichen Sanktionen ganz zu schweigen. In gleicher Weise wie Deutschland gehören aber auch die Niederlande gebrandmarkt und einige der Länder, die alle hohe Außenhandelsüberschüsse aufweisen, sich aber immer wieder mit ihrer „frugalen“ Politik hervortun, die sie – unsinnigerweise – zum Vorbild für alle anderen erklären wollen.

Nicht alle können sparen…

Faktenverweigerer muss man auch all die Ökonomen nennen, die sich beharrlich weigern, einen Zusammenhang zwischen dem Leistungsbilanzsaldo, dem privaten Sparen und den öffentlichen Defiziten auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Nur wer den einfachen Satz versteht, dass nicht alle Volkswirtschaften und nicht alle Gruppen in einer Volkswirtschaft gleichzeitig sparen können, sollte überhaupt als ernsthafter Gesprächspartner gelten können. Als beständiger Faktenverweigerer erweist sich zum Beispiel der Präsident des Ifo-Wirtschaftsforschungsinstitutes in München, Clemens Fuest. Der Mann ist Finanzwissenschaftler, schreibt ständig über öffentliche Defizite und Schulden, ohne auch nur einmal zu erwähnen, dass man die öffentlichen Schulden niemals angemessen diskutieren kann, wenn man nicht deren Gegenstücke in Form von Sparen und Verschulden der anderen Sektoren einer Volkswirtschaft ins Bild nimmt. Er schreibt in einem gerade erschienenen Aufsatz in der ZEIT (zusammen mit Harold James), für die Forderung nach einer massiven Ausdehnung der Staatsausgaben fehlten „überzeugende Argumente“. Doch mit dem mit Abstand wichtigsten Argument, dass in Deutschland und vielen anderen Ländern der Unternehmenssektor insgesamt tatsächlich nicht mehr Schuldner, sondern Sparer ist, setzt er sich nicht auseinander. 

Ein notorischer Faktenverweigerer ist auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Schon einige Male in den vergangenen Jahren musste er zugestehen, dass die deutschen Unternehmen inzwischen Netto-Sparer geworden sind und damit ihre eigentliche Rolle in einer Marktwirtschaft nicht mehr ausfüllen können (wie beispielsweise hier gezeigt). Das hindert ihn jedoch nicht daran, die deutschen und die europäischen Politiker aufzufordern, die Schuldenbremse und die europäischen Schuldenregeln einzuhalten, obwohl (wie hier zuletzt gezeigt) klar ist, dass jeder Versuch der Einhaltung durch alle EU-Staaten gleichzeitig scheitern muss, weil andere Schuldner als die Staatshaushalte derzeit nicht zur Verfügung stehen.

In seinem gerade erschienenen Jahresgutachten gibt es zwar eine Diskussion zwischen jeweils zwei Mitgliedern des Rates, die leicht unterschiedlicher Meinung in Sachen Abbau der öffentlichen Schulden in Deutschland und Europa sind. Die entscheidende Verbindung zwischen staatlichen Schulden und den Salden der übrigen Sektoren taucht aber nirgendwo auf. In geradezu unendlicher Naivität stellen die Ratsmitglieder Grimm und Wieland fest, es sei nach der globalen Finanzkrise 

„… nur in wenigen Mitgliedstaaten gelungen, im Zuge der Erholung nach der Finanzkrise die Schuldenstandsquote wieder deutlich zu reduzieren. Die Schuldenstandsquote reduzieren konnten beispielsweise Deutschland, die Niederlande und Irland. 

Einige Mitgliedstaaten haben die Schuldenstandsquote selbst in der Wachstumsphase vor der Corona-Krise noch weiter erhöht. Dazu gehört etwa Frankreich. Dort stieg die Quote von 65 % des BIP vor der Finanzkrise zunächst auf knapp unter 90 % nach der Finanzkrise. Im Zuge der darauffolgenden Erholungs- und Wachstumsphase stieg die Schuldenquote weiter an, auf knapp unter 100 %. Mit der Corona-Krise folgte ein weiterer Schub auf 115 %. Im Gegensatz zu diesen Entwicklungen gilt es, konjunkturell gute Zeiten zu nutzen, um hohe Schuldenquoten abzubauen.“ 

Das ist Verweigerung der Anerkennung eines unbestreitbaren Zusammenhangs auf allerhöchstem Niveau. Deutschland und die Niederlande konnten ihre Staatshaushalte nur konsolidieren, weil sie hohe und steigende Leistungsbilanzüberschüsse zu verzeichnen hatten; Frankreich musste auf den Staat setzen, um überhaupt eine Erholung hinzubekommen. Wer immer noch nicht verstanden hat, dass es konjunkturell gute Zeiten nicht mehr gibt, seit die Unternehmen zu Sparern geworden sind, kann auch zu keiner anderen Frage eine relevante Antwort geben.

Als penetranter Faktenverweigerer geoutet hat sich jüngst auch Andreas Freytag, ein Ökonomie-Professor aus Jena und Kolumnist der Wirtschaftswoche (Freytags-Frage). Er versteigt sich zu der nur absurd zu nennenden Position, ein Fokus auf Mikroökonomie sei für den neuen deutschen Finanzminister besser als die Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge. Er tut so, als ginge es bei Makroökonomik nur um die Forderung, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch staatliche Ausgaben zu erhöhen. In welchem Umfeld das gefordert wird, darauf kommt es offenbar gar nicht an, ebenso wenig wie auf die Frage, was von einem Unternehmenssektor zu erwarten ist, der schon seit zwanzig Jahren die Rolle, die ihm alle Mikroökonomen zuweisen, einfach nicht mehr spielt. 

Alle die Positionen, die sich mit staatlichen Defiziten und Überschüsse beschäftigen, ohne die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge, die ein nicht bestreitbares Faktum sind, auch nur zu erwähnen, kann man getrost ignorieren. Es ist ungeheuerlich, dass Vertreter eines Faches, das ausgibt, eine Wissenschaft zu sein, derart irrelevante Ökonomik verbreiten können, ohne dass aus dem Fach heraus ein Sturm der Kritik aufbraust.