Die Rente, die Demographie und der Zins

Dass die Riester-Rente ein totaler Flop war, weiß heute fast jeder. Dennoch kam schon vor der Regierungsbildung bei einigen Parteien wieder eine Diskussion hoch über die Möglichkeit einer kapitalgedeckten Rente. In den Koalitionsverhandlungen wird die FDP darauf beharren, es müsse eine zweite angesparte Säule der Rentenversicherung geben wegen Demographie – und so wie es aussieht, wird niemand daraus einen Knackpunkt machen. Die SPD ist offen und die Grünen haben das auch schon einmal selbst mit der Idee eines Staatsfonds ventiliert. 

Diesmal soll der Staat mit einem neu geschaffenen Fonds einspringen, weil man immerhin eingesehen hat, dass beim Riester-Modell letztlich nur die Versicherungen profitiert haben.

Dennoch ist die Rückkehr zu dieser alten Idee mehr als erstaunlich, wenn man bedenkt, wie sich die Bedingungen an den Kapitalmärkten der Welt seitdem verändert haben. 

Zu Beginn des Jahrhunderts wurde argumentiert, die Verzinsung des angesparten Kapitals sei bei einer Kapitalmarktanlage höher als die implizite Verzinsung beim Umlageverfahren. Bei positiven Realzinsen könne man sogar damit rechnen, die Rente zu finanzieren, ohne das Kapital selbst zum Zeitpunkt des Rentenbezuges verbrauchen zu müssen. 

Nach zehn Jahren eines weltweiten Nullzinsregimes müsste man allerdings doch stutzig werden. Derzeit spricht wenig dafür, dass sich das Zinsniveau in einem überschaubaren Zeitraum auf Werte einpendelt, wie sie vor zwanzig Jahren noch gang und gäbe waren. Man muss sich ja gerade als liberaler Politiker oder neoklassischer Ökonom die Frage stellen, warum das Zinsniveau so niedrig ist und was das für die Hoffnungen heißt, die man mit einer angesparten Rente verbindet.  

Dass es immer noch große Konfusion um die Rente gibt, liegt vermutlich daran, dass Deutschland seit Beginn des Jahrhunderts hohe Leistungsbilanzüberschüsse aufweist. Daher ist der einfache und absolut richtige Satz, dass die Volkswirtschaft nicht sparen kann, den Deutschen fremd geblieben. Die Leistungsbilanzüberschüsse, die in Deutschland über die Parteigrenzen der potenziellen Koalitionäre hinweg inzwischen als eine Selbstverständlichkeit verbucht werden, erwecken den Eindruck, die Volkswirtschaft könne doch sparen, weil Leistungsbilanzüberschüsse ja bedeuten, dass ein Land weniger ausgibt als es einnimmt – und genau das nennt man sparen.

Um diesem Trugschluss zu entgehen, muss man das tun, was den Deutschen kollektiv immer noch am schwersten fällt: man muss statt der nationalen eine europäische Perspektive einnehmen. Wer das nicht tut, redet systematisch am Thema vorbei. Es ist in einer Währungsunion zwingend, die gesamtwirtschaftliche Situation und die Wirtschaftspolitik der gesamten Union zu betrachten. Eine rein nationale Perspektive führt vollkommen in die Irre, weil zwar die Geldpolitik für alle zusammen gleich handelt, aber gleichzeitig ein Land in den übrigen Politikbereichen, vor allem bei der Lohnpolitik, tun kann, was alle Länder der Währungsunion zusammen nicht tun können.

Warum sind die Zinsen weg?

Gerade für die Ökonomen, die vom Staat explizit den Auftrag haben, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge offenzulegen, müsste die Bedeutung des Zinsniveaus vollkommen klar sein. Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrates, meint jedoch, „Der Ausbau einer kapitalgedeckten Alterssicherung, den FDP und Grüne schon lange fordern, könnte zusätzliches Kapital für Investitionen mobilisieren und zugleich die Menschen am wirtschaftlichen Erfolg beteiligen.“ Wie kann man in der derzeitigen Situation an den Weltkapitalmärkten auf die Idee kommen, es fehle an Kapital und man müsste zusätzliches Kapital mobilisieren, um investieren zu können? Wer die Kapitaldeckung unserer Renten ausbauen will, muss – mutmaßlich mit hohen staatlichen finanziellen Anreizen – eine Massenbewegung auslösen, die geeignet ist, die Sparquote der privaten Haushalte im Vergleich zum bisherigen Niveau zu erhöhen.

Als neoklassische Ökonomin muss Grimm dafür eintreten, weil sie von zusätzlichem Sparen erwartet, dass es das Kapitalangebot auf dem Kapitalmarkt erhöht, folglich die Zinsen sinken und auf diesem Wege mehr private Investitionen ausgelöst werden. Wäre das so, würde sich für die gesamte Volkswirtschaft die Möglichkeit eröffnen, auf einen höheren Wachstumspfad einzuschwenken, der sowohl die Arbeitseinkommen als auch die Renten und die Gewinne der Unternehmen absolut steigen ließe.

Auch als neoklassischer Ökonom muss man allerdings zur Kenntnis nehmen, dass das Zinsniveau auf dem Kapitalmarkt in allen entwickelten Volkswirtschaften schon bei null oder wie in Deutschland sogar darunter liegt. Und wie begründet Grimm ihren Vorschlag gegenüber den heutigen Sparern, die schon jetzt heftig darüber klagen, dass sie für ihre Ersparnisse keine Zinsen mehr bekommen und häufig real gerechnet häufig eine negative Verzinsung hinnehmen müssen, wenn sie ihr Geld nicht ausgeben, sondern auf Konsum verzichten, um (wie die Neoklassiker das interpretieren) die Mittel der Volkswirtschaft für Investitionen zur Verfügung zu stellen? 

Gerade für neoklassische Ökonomen, für die der Zins am Kapitalmarkt ein reines Marktergebnis ist, kann das niedrige Zinsniveau nur bedeuten, dass der Transmissionsmechanismus vom Sparen zum Investieren unterbrochen ist. Zusätzliches vom Staat angestoßenes Sparen wird vermutlich nur dazu führen, dass bisherige Sparer ihre Sparbemühungen reduzieren, weil sie (noch größere) Verluste mit ihrer Anlage erleiden, oder ihre Sparanlagen einfach nur umschichten, um die staatliche Förderung mitzunehmen. Folglich spricht vieles dafür, dass sich die Sparsumme gar nicht erhöhen lässt, weil es keinen Zins gibt, der noch weiter sinken könnte, ohne die bisherigen Sparer (noch stärker) auf die Verliererstraße zu bringen. 

Offensichtlich gibt es auf der ganzen Welt einen Angebotsüberschuss an den Kapitalmärkten gibt, der die Idee einer Kapitaldeckung von vorneherein obsolet macht. Da die Wirkung des Angebotsüberschusses auf den Zins jedoch nicht ausgereicht hat, um so viel Nachfrage nach Kapital zu erzeugen, dass eine dynamische Entwicklung der Volkswirtschaften auch ohne staatliche Unterstützung zustande gekommen wäre, fehlt es offensichtlich nicht an Kapitalangebot. Dann aber ist jede staatliche Förderung von Sparen für die Rente rausgeworfenes Geld. 

Konnte man Anfang des Jahrhunderts noch darauf hoffen, dass die massive staatliche Subvention für die Riesterrente zu einer steigenden Sparquote und steigenden Investitionen führen würde (was aber beides nicht eingetreten ist), ist jetzt schon die Grundvoraussetzung für diese Idee nicht mehr gegeben, nämlich die Umsetzung von vermehrtem Sparen in vermehrtes Investieren via Zinssenkung.

Die Rettung: Die Notenbanken sind schuld

Doch anstatt zuzugestehen, dass Zinsen nahe Null jede Argumentation zugunsten von zusätzlichem Sparen ad absurdum führen, haben sich viele Neoklassiker, und insbesondere solche, die der Hayekschen Variante des Neoliberalismus nahestehen, eine neue und absurde Theorie gebastelt. Sie greifen dazu ein durchaus richtiges Argument auf, benutzen es aber in einer Weise, die vollkommen unangemessen ist. Sie stellen nämlich fest, dass der Zins gar nicht vom Markt bestimmt, sondern weitgehend von den Zentralbanken festgelegt wird. Daraus entsteht dann die These, es sei nicht der kluge Markt, der den Zins auf Null gedrückt habe, sondern es sei, wie immer im Neoliberalismus, der dumme Staat gewesen – hier in Form seiner Zentralbank. Nur weil die EZB (und die anderen großen Notenbanken der Welt) die Zinsen mit Gewalt auf null gesetzt und dort gehalten hätten, bringe Sparen nichts mehr und die ganze Marktwirtschaft sei auf den Kopf gestellt. 

Da haben wir ein schönes Beispiel für ein durchaus richtiges Argument, das in einem bestimmten Kontext aber absolut kontraproduktiv ist. Der in ultraliberalen und rechten Zirkeln anzutreffende Hass auf die Notenbanken und insbesondere auf die EZB speist sich genau daher. Man ahnt, dass eine Erklärung über die Märkte nicht funktioniert und greift freudig nach dem Ausweg, der auch von vielen heterodoxen Ökonomen mit ihren Aussagen über den Zins und die Notenbanken tatsächlich angeboten wird. 

Je mehr und je schärfer die EZB aus der Ecke des Liberalismus angegriffen und zum alleinigen Sündenbock erklärt wird, umso weniger fällt auf, dass man in der eigenen Vorstellungswelt keine Möglichkeit hat, Kapitaldeckung plausibel zu begründen. In einem solchen Umfeld kann dann selbst die Kapitaldeckung wieder reüssieren: Man muss ja nur die Notenbank entmachten und schon stimmen die Verhältnisse wieder, weil ja der Markt niemals versagt hat, sondern nur der Staat.

Würde man einräumen, dass die Notenbank in aller Regel eine Politik betreibt, die exakt auf das neoklassische Ergebnis hinausläuft, wäre die Sache für den Neoklassiker nicht so einfach. Die Notenbanken betreiben Nullzinspolitik ja nicht einfach so aus eigener Willkür, sondern weil sie beobachten, dass es „zu viel Kapital“ und eine zu geringe reale Investitionsdynamik gibt. 

Die Notenbanken sind eben nicht schuld

Auch eine Notenbank wie die EZB, deren Hauptziel eine bestimmte Inflationsrate ist, beobachtet genau deswegen die gesamte wirtschaftliche Entwicklung, denn die Inflationsrate fällt ja nicht vom Himmel, sondern ist (wie hier zuletzt beschrieben) via Arbeitslosigkeit und Lohnentwicklung von der gesamtwirtschaftlichen Dynamik abhängig. Tritt eine Konstellation auf, die man (wie in der Graphik hier gezeigt) als übermäßiges Sparen der privaten Wirtschaftssubjekte einschließlich der Unternehmen bezeichnen kann, muss die Notenbank die Zinsen so weit senken, wie es möglich ist. Was sollte sie sonst tun? Es gibt keine ernstzunehmende Theorie, die ihr in einer Situation übermäßigen Sparens empfehlen würde, die Zinsen nicht zu senken. Stellt die EZB dann fest, dass die Zinssenkung nicht geholfen hat, weil die Unternehmen trotzdem nicht ausreichend investieren, kann sie die Zinsen nicht auf das vorige Niveau wieder anheben. Das würde die unternehmerische Abneigung gegen Investitionen noch verstärken.

Erkennen kann die Notenbank die Labilität der Lage unschwer daran, dass der Staat im gesamten Währungsraum (Deutschland mit seinem Leistungsbilanzüberschuss ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt) immer wieder eingreifen muss, um die reale Wirtschaft zu stabilisieren. Weiterhin beobachtet sie eine hohe Arbeitslosigkeit und geringe private Investitionsdynamik. Das ist exakt die Konstellation, die auch die neoklassische Theorie unterstellen müsste, wenn sie einen Zins an der Schwelle zu Null ohne Zutun der Zentralbank zu erklären hätte. Es gibt offenbar auch bei einer neoklassischen Sichtweise Konstellationen, bei denen Sparen generell schadet. 

Genau deswegen muss man (das müsste übrigens auch eine überzeugend argumentierende Notenbank tun statt, wie die EZB, einen fiktiven gefallenen Realzins zur Grundlage ihrer Überlegungen zu machen), um gegen die neoklassische Sichtweise des perfekten Marktes argumentieren zu können, auf die Betrachtung der Finanzierungssalden zurückgreifen. Niemand kann plausibel behaupten, dass eine Volkswirtschaft, in der trotz extrem niedriger Zinsen die potenziellen Investoren und Schuldner, die Unternehmen nämlich, selbst zu Sparern geworden sind, zusätzliches Sparen zu ertragreichen Investitionen führen wird. Das Gegenteil ist richtig: Zusätzliches Sparen wird entweder den Staat zwingen, noch größere Schulden zu machen, oder es wird, reagiert der Staat nicht schnell genug, unmittelbar zu einer Rezession führen, bei der alle verlieren. 

Immer noch gilt zweifellos der Satz: die Volkswirtschaft kann nicht sparen, auch wenn man in Deutschland, das einen permanenten Leistungsbilanzüberschuss hat, glaubt, man könne sich der Logik dieses Satzes entziehen. Folglich muss man, um überzeugend zu argumentieren, darauf beharren, dass der europäische Zins der Beweis dafür ist, dass die Volkswirtschaft nicht sparen kann, und man muss die EZB gegen die absurden Angriffe verteidigen, denen sie aus Deutschland (eingeschlossen sind dabei explizit diejenigen, die vom deutschen Verfassungsgericht kommen) in penetranter Weise ausgesetzt ist. Für Wissenschaftler, aber auch für Politiker in Koalitionsverhandlungen gilt: Wer die EWU nicht versteht, kann auch alles andere nicht verstehen. 

Was ist zu tun?

So ist es am Ende ganz einfach: Heute zusätzlich gespartes Geld fördert nicht das heutige Geschäft aller Unternehmer dieser Welt, sondern verdirbt es. Ein Euro, den wir heute nicht ausgeben für Güter und Dienste, die Unternehmen produzieren, mindert den Umsatz aller Unternehmen unmittelbar um genau einen Euro. Weil der Zins nicht sinkt, ist nur der Umsatz und damit der Gewinn aller Unternehmen gesunken. Der Anreiz zu investieren, ist eindeutig kleiner geworden. 

Die ganze Debatte um die Demographie und das Ansparen erweist sich als Schimäre. Jede Rente ist kapitalgedeckt. Sie ist gedeckt von dem Sachkapital, das genau zu dem Zeitpunkt Erträge abwirft, wo die Rente aus der Umlage oder der Zins auf eine Anlage gezahlt werden soll. Eine andere Kapitaldeckung gibt es nicht. Wenn wir in 30 Jahren sehr viel mehr Rentner als Aktive im Vergleich zu heute haben, und die Rentner eine gleich gute Absicherung wie heute genießen sollen, dann müssen wir das auf die eine oder andere Weise bezahlen. Höhere Beitragssätze, aus denen die deutsche Politik ohne jeden Sinn und Verstand ein Tabu gemacht hat, sind kein Teufelswerk, sondern der normale Weg, mit diesem Strukturwandel umzugehen.

Es kann jedoch gelingen, die höheren Belastungen der Jüngeren dadurch zu relativieren, dass heute sehr viel in Sachkapital investiert wird und wir folglich in 30 Jahren so reich sind, dass Unternehmen und Arbeitnehmer einen höheren Rentenbeitrag gut verkraften können. Wollen die Jüngeren es dennoch nicht bezahlen, müssen sie das mit den zukünftigen Rentnern ausmachen und ihnen erklären, dass sie mit noch weniger Rente im Vergleich zum Einkommen auskommen müssen als die heutigen Rentner, also trotz größerem Wohlstand relativ arm sein werden. Das ist eine Verteilungsfrage und – wie alle Verteilungsfragen – schwer zu lösen. Heute den Menschen jedoch zu sagen, sie könnten diese Verteilungsfrage umgehen, indem sie ihre Groschen zusammenhalten, ist Scharlatanerie. 

Es gibt folglich ein reales Problem, das für 20–30 Jahre in der Mitte des 21. Jahrhunderts Verschiebung der Altersstruktur heißt. Man kann das reale Problem durch reale Maßnahmen lösen. Bevölkerungspolitik mit mehr Geburten im Inland ist die naheliegendste. Eine reale Lösung ist aber auch die Zuwanderung von mehr jungen Menschen aus Ländern, die womöglich umgekehrte Bevölkerungsverhältnisse haben. Denkbar ist auch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, aber das hat viele natürliche und gesellschaftliche Grenzen. 

All diese realen Maßnahmen setzen jedoch zwingend voraus, dass Deutschland und Europa in der Lage sind, die Arbeitslosigkeit vollständig zu beseitigen, weil sonst keine diese Maßnahmen greifen kann. Das wiederum setzt eine neue Wirtschaftspolitik voraus, die auf Lohn- und Nachfragedynamik aufbaut statt auf Umverteilung zugunsten der Unternehmen. Einen Finanzierungstrick, mit dem man das reale Problem lösen könnte, gibt es nicht. Führt man mehr Kapitaldeckung ein und beginnen die Menschen tatsächlich mehr zu sparen, gefährdet man sowohl die Akzeptanz der Verteilungslösungen als auch die Chance, Vollbeschäftigung zu erreichen.