Wie geschieht wirtschaftliche Entwicklung mit Direktinvestitionen – oder: Wie vollzieht sich Wissenschaft?

Patrick Kaczmarczyk und ich haben in einem internationalen wissenschaftlichen Journal (Global Policy) einen Artikel zur Bedeutung von Direktinvestitionen veröffentlicht, den man hier finden und nachlesen kann (auf Englisch). Interessant dabei ist einerseits die Tatsache, dass die Veröffentlichung dieses Artikels von mehreren Journals glatt abgelehnt wurde. Noch interessanter aber sind die Begründungen, mit denen ganz verschiedene Referees (so nennt man die Experten, die für wissenschaftliche Journals neu eingereichte Artikel begutachten) ein solches Papier ablehnen.

Das Papier sagt in seiner jetzigen Form (und sagte es noch deutlicher in früheren Fassungen, die von den verschiedenen Referees abgelehnt wurden), dass die Theorie der komparativen Kostenvorteile, auf die sich die gesamte Handelstheorie seit 200 Jahren in entscheidender Weise stützt, nicht zu halten ist. Spätestens mit der massiven Ausweitung westlicher Direktinvestitionen in China hätte man erkennen müssen, dass es nicht komparative Kostenvorteile sind, auf die sich Entwicklungsländer stützen können und müssen, sondern absolute Kostenvorteile, also absolut niedrigere Kosten bei der Produktion von weltmarktgängigen Gütern.

Solche absoluten Vorteile erzielen Produzenten (westliche oder heimische) in Entwicklungsländern immer genau dadurch, dass sie produktivere westliche Technologie direkt (physisch) importieren (in die Niedriglohnländer bringen) und diese moderne Technik mit den niedrigen Löhnen in den Entwicklungsländern kombinieren. Dass das tatsächlich in großem Stil geschieht, kann man nicht bestreiten und wird auch nicht bestritten. Der Rest des Arguments ist reine Logik. 

Wenn sich durch den Import von westlicher Technologie gewaltige absolute Vorteile in Niedriglohnländern erzielen lassen, ist die Idee komparativer Vorteile vollkommen neben der Sache. Man unterstellt, die Entwicklungsländer hätten zwar absolute Nachteile, aber die würden von westlichen Unternehmen aus irgendwelchen Gründen nicht genutzt, weil sie z. B. schon überbeschäftigt sind, keine Kapazitäten mehr haben und auch keine neuen aufbauen können. Das ist für sich genommen schon vollkommen unrealistisch, es ist jedoch in einer Welt, in der die physische Verlagerung von hochproduktiven Produktionsanlagen in Niedriglohnländer kein Problem darstellt, nachgerade abwegig.

Auch neben der Sache ist dann, und das ist für die herrschende Lehre in der Ökonomik noch viel schlimmer, die neoklassische Beschäftigungstheorie, also die Idee eines funktionierenden „Arbeitsmarktes“. Wenn westliche Unternehmen in Niedriglohnländern die Technologie einsetzen, die sie in den Hochlohnländern entwickelt haben, ist die Vorstellung, die Unternehmen würden sich generell bei der Entscheidung für oder gegen eine neue Technologie von den relativen Preisen von Arbeit und Kapital leiten lassen, schlicht absurd. 

Man sieht, bei einem wirklich wissenschaftlichen Vorgehen hätten die Referees in den diversen Journals faktisch bestreiten können, dass es Direktinvestitionen gibt, bei denen hohe absolute Vorteile erzielt werden. Das hat jedoch kein einziger getan. Wenn man das aber nicht bestreitet, ist es wiederum unbestreitbar, dass große Teile der herrschenden Lehre obsolet sind – und zwar völlig unabhängig davon, ob in einigen Veröffentlichungen in den letzten vierzig Jahren das Wort Direktinvestitionen und eine Beschreibung dieser Investitionen vorkommt. 

Die Referees hätten noch sagen können, dass sie auf keinen Fall die herrschende Lehre in Frage stellen wollen. Doch dann wäre ihr unwissenschaftlichen Vorgehen offensichtlich gewesen. Also haben sie fast unisono gesagt, wir hätten nicht genug Literaturrecherche betrieben, denn hätten wir das getan, hätten wir sicher einen Vertreter der herrschenden Lehre gefunden, der das, was wir behaupten, auch schon früher gesagt hätte[1].

Es gibt in den Augen des „normalen“ Wissenschaftlers einfach nichts, was nicht bei einer umfassenden Literaturrecherche bereits zu finden wäre, mit anderen Worten, es gibt nichts Neues. In der Wirtschaftswissenschaft ist also schon alles gesagt, was es theoretisch zu sagen gibt. Die jeden Tag neu entstehende Empirie kann nur unter dem Licht der gegebenen Theorie beleuchtet werden. Und stellt man fest, dass die bekannte Theorie keine Erklärung der Empirie liefert oder gar in krassem Widerspruch zu ihr steht, ignoriert man neue Entwicklungen einfach.

Doch nehmen wir einmal an, es hätte vor dreißig Jahren schon jemand erkannt, was wir heute erkennen, dann wäre auch das wieder fatal für die herrschende Lehre. Das würde nämlich bedeuten, dass die herrschende Lehre trotz richtiger faktischer Beobachtungen nicht in der Lage oder nicht bereit ist, aus diesen Fakten logische Schlüsse zu ziehen und ihr Weltbild entsprechend zu korrigieren. Auch dann wäre unwissenschaftliches Vorgehen zu konstatieren.

Heute sind wissenschaftliche Karrieren in den Wirtschaftswissenschaften nahezu vollständig abhängig von der Veröffentlichung in den sogenannten referierten Journals. Ich kann mich über die Urteile von solchen Referees leicht lustig machen, aber junge Forscher, die ernsthaft vorwärts kommen und etwas verändern wollen, sind vollkommen abhängig von deren Urteilen. Das ist ein wirklicher Rückschritt in Sachen Wissenschaft, weil das Beharren auf der Richtigkeit der herrschenden Lehre (des Standardmodells, wie es oft großspurig und in Anlehnung an die Physik genannt wird) auch bei scheinbar progressiven Journals zum guten Ton gehört. Nicht Originalität und Kritik sind gefragt, sondern die Bestätigung des Standardmodells dadurch, dass man sich allerhöchstens erlaubt, an einem ganz kleinen Schräubchen desselben zu drehen. 

Wer das Modell selbst in Frage stellt, hat keine Chance, die Papiere zu veröffentlichen, die für eine wissenschaftliche Karriere unabdingbar sind. So verschwenden junge intelligente Menschen die produktivsten (und potentiell originellsten) Jahre ihres Lebens, um zu zeigen, dass sie eigentlich schon ungeheuer alt und weise sind. Die Verengung der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Karriere auf den Weg der Veröffentlichung in referierten Journals ist eine unerhörte Blockade für den wissenschaftlichen Fortschritt im Fach Volkswirtschaftslehre.


[1] Patrick Kaczmarczyk hat inzwischen einen weiteren Aufsatz veröffentlicht, in dem er zeigt, dass auch die „Neue Handelstheorie“ mit der sich u. a. Paul Krugman hervorgetan hat, die Bedeutung und die Implikationen von FDI nicht erkennt.