Die verklemmte Republik – Anmerkungen zum Jahreswechsel

Würde man Anfang 2023 von einem mehrjährigen Schlaf aufwachen und sich in Deutschland umsehen, man käme nicht umhin, ein Land im Zustand hochgradiger kollektiver Verklemmtheit zu konstatieren. Eine Republik voller Merkwürdigkeiten, über die niemand offen sprechen will. Die politische Spitze versucht schon gar nicht mehr, den Bürgern eine gewisse Orientierung zu geben. Das Land trudelt vor sich hin, obwohl alle immerfort davon reden, nun endlich die unabweislichen Zukunftsaufgaben energisch anpacken zu wollen. 

Die Liste der Merkwürdigkeiten ist schier endlos: 

  • Es gab eine Pandemie, die in den meisten Ländern der Welt längst vorbei ist, deren Ende man in Deutschland aber schlicht verpasst hat. Wollte man den Kritikern der staatlichen Zwangsmaßnahmen nicht Recht geben? Immer noch scheinen die Verantwortlichen nach einer „Killervariante“ zu suchen, mit der sie das eigene Versagen im Umgang mit dem Virus kaschieren können. Niemand spricht mehr über die grandiosen Fehlleistungen der Politik, über die nahezu totale Schließung der Grenzen in Europa (für die vor allem Horst Seehofer verantwortlich war) oder die bis zur absoluten Absurdität getriebenen staatlichen Maßnahmen (man denke beispielsweise nur an Ausgehverbote und Maskenzwang in öffentlichen Parks), von denen der größte Teil ohne jeden Sinn und ohne jede Rationalität war. 
  • Es gibt einen Krieg, den keine Seite gewinnen kann, den in Deutschland jedoch kaum jemand beenden will. Politik und Medien reden sich ein, sie wüssten genau, wer die gerechte Sache vertritt und wer damit siegen muss. Doch “in the great events of man’s history, in the unwinding of the complex fates of nations, justice is not so simple.”(bei den großen Ereignissen der Menschheitsgeschichte, bei der Abwicklung der komplexen Schicksale der Völker, ist Gerechtigkeit nicht so einfach, J. M. Keynes). Wie kleine Kinder spielen die Politiker mit dem Feuer, ohne an die möglichen Folgen auch nur einen Gedanken zu verschwenden.
  • Die deutsche Außenpolitik hat sich von den USA eine „Rivalität mit China“ einreden lassen – offenbar ohne zu ahnen, dass sie sich dadurch zu einem Handlanger der wirtschaftlichen Interessen der USA degradieren lässt. Sie unterstützt damit unmittelbar den Wahn der amerikanischen Neokonservativen (was Biden einschließt), die einzige Supermacht bleiben zu müssen und schadet den europäischen Interessen vehement. Dass man dabei sogar dazu tendiert, die amerikanischen Provokationen in Sachen Taiwan mitzumachen, ist an Dummheit und Verantwortungslosigkeit nicht mehr zu überbieten.  
  • Im gleichen Atemzug richtet sich die deutsche Handelspolitik auf eine „regelbasierte Ordnung“ und auf „Wertepartner“ aus. Das ist so naiv, dass man dafür keine Worte mehr findet. Zunächst ist es abwegig, die USA, die nichts als ihre eigenen Interessen (und ihre eigenen Wahnvorstellungen) vertreten, als Wertepartner anzusehen. Eine regelbasierte Ordnung interessiert die USA immer nur dann, wenn sie ihren Interessen dient. Ob es um die Welthandelsorganisation, den IWF oder um die internationalen Gerichtshöfe geht, die USA lassen sich selbst niemals auf die Zwänge einer regelbasierten Ordnung ein. 
  • Noch schlimmer ist die Tatsache, dass die „Wertepartner“ mit ihren Washingtoner Institutionen in der sich entwickelnden Welt in den letzten 70 Jahren unermesslichen Schaden angerichtet haben, weil sie ihre neoliberalen Ideologien skrupellos durchsetzten. Auch muss sich Deutschland, der große Merkantilist, fragen, ob es das geeignete Land ist, um den „Wertepartnern“ eine regelbasierte Ordnung zu verkaufen. Niemand hat mit seiner gnadenlosen Leistungsbilanzüberschusspolitik die regelbasierte Ordnung in der Europäischen Währungsunion seit zwanzig Jahren mehr mit Füßen getreten als Deutschland.
  • Nach einem Marshallplan mit Afrika, der dazu gedacht war, die Flüchtlingsströme zu begrenzen, wird schon wieder eine neue Politik „für Afrika“ entworfen, die nichts mit Afrika zu tun hat, sondern nur mit dem Versuch, die „Rivalität mit China“ auch in Afrika auszuleben. Für Afrika ist das eher Drohung als Hoffnung, weil man wiederum nicht einmal im Ansatz zu verstehen versucht, was in Afrika in den vergangenen dreißig Jahren unter dem Regime von IWF und Weltbank schiefgelaufen ist (ich hänge daher das oben verlinkte Papier aus dem Jahr 2017 hier noch einmal an). Die Naivität, mit der die deutsche Entwicklungsministerin, die vormals Umweltministerin war, sich diesem Thema hingibt, ist atemberaubend.
  • Es gab eine für die deutsche Energieversorgung enorm wichtige Pipeline, die gesprengt wurde. In der deutschen Regierung will aber niemand wissen, wer es gewesen ist. Wie mein amerikanischer Kollege Jeffrey Sachs überzeugend dargelegt hat, schauen wir bewusst weg, obwohl es für jeden Menschen mit einem halbwegs gesunden Menschenverstand offensichtlich ist, dass es Deutschlands „Wertepartner“ waren, die dafür verantwortlich sind. 
  • Es gibt eine „Inflation“, die gar keine ist und doch energisch bekämpft wird. Über die vermeintliche Inflation ist inhaltlich alles gesagt (wie hier) und geschrieben, was zu sagen war. Inzwischen zeigt sich in vielen Bereichen, dass die temporären Preiseffekte abklingen und die Raten sich sehr schnell in Richtung Normalität bewegen. Mehr als erstaunlich aber ist die Art und Weise, wie die Politik mit diesem Thema umgegangen ist. Von der ersten bis zur letzten Minute gab es nicht einmal einen Versuch der zuständigen Minister oder des Bundeskanzlers, aufklärend einzugreifen. Der Finanzminister glaubt sogar, mehr staatliche Nachfrage zur Bekämpfung der Rezession könne die „Inflation“ anheizen. Abwegiger geht es nicht mehr.
  • Die Wirtschaft droht dramatisch abzustürzen, wird aber Tag für Tag schöngeredet. Der Trick ist einfach: Man postuliert eine milde Rezession (oder gar eine „Winterrezession“) und verkauft das der naiven Öffentlichkeit als das Normalste von der Welt. Nach einem massiven Einbruch namens Corona wäre aber selbst eine milde Rezession keineswegs das Normalste von der Welt, sondern es wäre eine schlichte Katastrophe. Tatsächlich sieht es nach einem tiefen Einbruch aus. Gerade meldet das Statistische Bundesamt, dass der wichtigste Konjunkturindikator, die Auftragseingänge bei der deutschen Industrie im November massiv eingebrochen sind und um über 10 Prozent unter dem Niveau des Vorjahres liegen. Besonders naive Geister glauben natürlich, dass es gut für das Klima ist, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst. Doch es geht nicht darum, die Wirtschaft zu stoppen, sondern der Dynamik der Wirtschaft eine andere Richtung zu geben. Wer etwas anderes versucht, wird kläglich scheitern (wie u. a. hier gezeigt).
  • Die deutsche Klimapolitik verliert sich im Klein-Klein, statt endlich eine globale Perspektive einzunehmen und zu sehen, dass es ohne den Konflikt mit den Produzenten fossiler Energie niemals eine globale Lösung geben kann. Die Produzenten und vorneweg Saudi-Arabien tun alles, um die globale Klimapolitik zu torpedieren. Niemand ist aber bereit, den offenen Konflikt zwischen den Produzenten (inklusive der USA natürlich) und den zum Verzicht bereiten Konsumenten wenigstens deutlich anzusprechen. Wie Friederike Spiecker, Constantin Heidegger und ich im neuen Atlas für Weltwirtschaft gezeigt haben, ist es praktisch unmöglich, globale Anreize zum Einsparen fossiler Energie für lange Zeit durchzuhalten, wenn das Angebot dieser Stoffe am Markt nicht konsequent reduziert wird.
  • Die staatliche Schuldenpolitik hält krampfhaft an der Schuldenbremse fest und macht doch mehr Schulden als jemals zuvor. Zur Schuldenproblematik ist alles gesagt, aber man kommt weder mit Logik noch mit eindeutiger Empirie in dieser Frage auch nur einen kleinen Schritt vorwärts. Die Reihen der Abwiegler und Ignoranten in Politik und Medien sind fest geschlossen. Sie verweigern sich jedem Versuch, die einzelwirtschaftliche Beschränktheit aufzubrechen. Sie verteidigen den intellektuellen Dunstkreis der schwäbischen Hausfrau und es gelingt ihnen auf diese Weise tatsächlich, mit der eigenen Dummheit jeden Aufklärungsversuch zu blockieren.  
  • Nicht anders ist es bei der Rentenpolitik, wo man vollkommen unbeeindruckt vom kläglichen Scheitern der Riester-Rente erneut auf privates Sparen setzt. Auch dazu ist inhaltlich alles gesagt. Doch auch hier macht die Borniertheit betroffen, mit der man sich über die Logik und über die Empirie hinwegsetzt, um die eigene ideologische Agenda durchzusetzen. 

Das alles ist deprimierend. Noch deprimierender aber ist es, dass keine Besserung in Sicht ist. Die Demokratie erweist sich genau zu dem Zeitpunkt, wo sie ihre Überlegenheit zeigen soll, als vollkommen unfähig, Spitzenämter so zu besetzen, dass effektives Regieren überhaupt möglich ist. Wenn das Spitzenpersonal der Parteien bedient ist, der Geschlechterverteilung, dem Migrationshintergrund und der regionalen Verteilung der Ämter Genüge getan ist, bleibt einfach niemals mehr Platz für eine Person, die intellektuell und organisatorisch in der Lage wäre, ein Ministerium zu führen und dem Land die notwendige Orientierung zu geben. Nicht nur in Osteuropa, nicht nur in Afrika, nicht nur in Lateinamerika, nein vor unserer eigenen Haustür scheitert das von uns heißgeliebte Modell, weil es keinen Weg gefunden hat, die Personalfrage zu lösen.

Anhang 

Ein Artikel aus dem Jahre 2017

Jenseits von Afrika und jenseits der Hoffnung, 

Afrika zu retten, ist zur Priorität der deutschen Entwicklungspolitik geworden.  Flüchtlinge fernzuhalten, ist jedoch das eigentliche Ziel. Leider fehlt zu beidem nicht nur ein Konzept, sondern auch die Bereitschaft, sich mit den eigenen gravierenden Fehlern in der Wirtschaftspolitik auseinanderzusetzen. 

Für einen kurzen Moment in der Geschichte konnte man im Jahr 2015 glauben, Deutschland, die geborene Exportnation, das Land, das in wirtschaftlichen Fragen immer zuerst an sich selbst denkt, dieses Land habe sich geändert. In diesem kurzen Aufbrechen von Mitleid, von Empathie gar, konnte man hoffen, es werde sich in der Gesellschaft etwas ändern, was Bestand hat. Doch dieser Moment, wir wissen es heute und erfahren es jeden Tag mit schmerzlicher Gewissheit, war nur ein Traum. Die Wirklichkeit einer harten, unmenschlichen Politik, die dem Bürger als „christlich-sozial“ und „sozialdemokratisch“ verkauft wird, hat den kurzen Traum jäh zerstört. 

Permanente Verschärfung des Asylrechts, Abschiebungen nach Afghanistan, in die Mitte eines vom Westen zerstörten Landes, verzweifelte Versuche, in Nordafrika Willkommenskultur für Heimkehrer zu erzwingen, zeugen von fieberhafter Aktivität der deutschen Politik, die nur einem genauso erklärten Ziel dient: 2015 darf sich nicht noch einmal wiederholen. Was in Italien und Griechenland mit den Flüchtlingen geschieht, wie viele Familien noch im Mittelmeer ertrinken, wie viel Verzweiflung, Leid und Hoffnungslosigkeit erzeugt werden, spielt keine Rolle. Spätestens nach dem Anschlag von Berlin hat die deutsche Politik das Mindestmaß des Menschlichen verloren. Es zählt nur noch die nächste Wahl, die Bierruhe an der Heimatfront und die Abwehr jeder politischen Konkurrenz von rechts.

Nun retten wir Afrika

Schlimmer noch als die Unmenschlichkeit ist jedoch der Zynismus, der wie Schwefelgeruch über den Reden derer wabert, die vorgeben, sie würden sich jetzt auch um die Lebensumstände in den Herkunftsländern kümmern. Und das natürlich nicht, weil man Flüchtlinge abhalten will, nach Europa zu kommen, sondern weil man gerade in diesem Augenblick die großen Entwicklungspotentiale Afrikas erkannt hat. Das ist eine wirkliche Drohung! Wenn die christsozialen „Ökonomen“ nach Europa auch noch Afrika in die Mangel nehmen, wird die Flüchtlingswelle zur Springflut, die nichts und niemand mehr aufhalten kann.

Allen voran geht bei der „Rettung Afrikas“ Dr. Gerd Müller, Entwicklungshilfeminister von der CSU, der sich vorgenommen hat, koste es, was es wolle, Afrika zu retten. Also lässt er von seinem Beamten ein dünnes Papierchen aufschreiben, das er großspurig „Marshallplan für Afrika“ nennt (hier zu finden). Da wird alles hineingeschrieben, was einem Beamten im deutschen Entwicklungshilfeministerium so einfällt und dann macht sich der Minister auf, die Welt, respektive Afrika zu retten. Dazu ruft er z. B. die afrikanischen Botschafter in Berlin zusammen und verkündet ihnen die frohe Botschaft, dass von nun an die afrikanische Jugend mit 20 Millionen neuen Jobs versorgt werden müsse (hier in der Rede vor den Botschaftern verkündet), weil Afrika so großartige Potenziale für „private Investitionen, für Unternehmertum (und) für eine neue Mittelstandskultur“ hat.

Warum keine wirkliche Diagnose der Krise?

Der Etat des BMZ umfasst für 2017 mehr als 8 ½  Milliarden Euro, davon sind 42 Millionen für Forschungszwecke vorgesehen. Würde Herr Müller es Ernst meinen, hätte er vor der Verkündung seines „Marshallplanes“ fünf dieser 42 Millionen dafür aufgewendet, sich ein umfassendes Bild von der afrikanischen Misere zu machen. Er hätte eine Gruppe von unabhängigen Wissenschaftlern bilden können, die in seinem Auftrag nicht nur Afrika bereisen, sondern auch denen genau und kritisch auf die Finger schauen, die in der Vergangenheit die größten Fehler in Afrika gemacht haben, nämlich der Internationale Währungsfonds und die Weltbank. Das sind schließlich die Institutionen, die – auch in deutschem Auftrag – seit Jahrzehnten den Neoliberalismus in die Welt tragen und seine Durchsetzung mit dem Monopol der Kreditvergabe in US-Dollars erzwingen, ganz gleich, wie oft es schiefgeht (vgl. eine Analyse für Nordafrika hier).

Ich habe schon einige Male gesagt, dass man mit den üblichen Rezepten in Afrika nicht weiterkommt. Sich zur Korruptionsbekämpfung zu bekennen, ist einfach, und dass afrikanische Regierungsführung verbesserungswürdig ist, weiß inzwischen jeder. Eines der größten Investitionshindernisse in Afrika sind jedoch prohibitiv hohe Zinsen, die von einem vollkommen dysfunktionalen Bankensystems herrühren (hier und hier zum Beispiel). Dieses Bankensystem wurde aber in der Regel unter der Ägide der beiden Washingtoner Institutionen eingerichtet und ist folglich sakrosankt. 

Länder, die strukturschwach sind, brauchen jedoch besonders niedrige Zinsen und eine ausreichende und kontrollierte Kreditversorgung. Wer am Geld- und Finanzsystem nichts ändert, bringt auch sonst nicht zustande. Das aber wollen weder Europäer noch Amerikaner, weil sie dazu vom hohen Ross des Neoliberalismus herunter müssten. Wie könnte man von denjenigen, die wegen ihrer neoliberalen Blockaden nicht in der Lage sind, ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme zu lösen, erwarten, dass sie erfolgversprechende Konzepte für Afrika haben.

Stabile staatliche Institutionen zu unterstützen, ein paar Brunnen zu bohren und gute Regierungsführung zu belohnen, ist einfach zu wenig und schon hundertmal versucht worden. Was auch vollkommen unterschätzt wird, ist die Bedeutung eines funktionierenden Währungssystems, das den Ländern die Möglichkeit gibt, eigenständige Geldpolitik zu betreiben, ohne dauernd in eine neue Schuldenfalle zu geraten. Nichts ist in dieser Hinsicht in den letzten fünfzig Jahren passiert, zu verlockend sind doch die schönen Gewinnmöglichkeiten, die global agierende Banken und Hedgefonds auch mit der Spekulation mit afrikanischen Währungen geboten werde. Südafrika, das die einzige afrikanische Währung emittiert, die Anker für die Währungen vieler anderer kleiner Länder ist, kann ein langes Klagelied davon singen.

Gebt den Menschen eine Perspektive

Hätte man das alles dem deutschen Entwicklungshilfeminister aufgeschrieben, er bei gutem Willen, den ich ihm nicht grundsätzlich abspreche, schnell erkannt, dass seine Initiative weniger ist als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Wer etwas ändern will, muss den Menschen in Afrika eine wirklich langfristige Perspektive bieten. Das geht nur mit einer vollkommen anderen Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Die aber will keiner von denen, die große Reden schwingen. So kommt es, wie es kommen muss. Man macht dies und jenes, nichts funktioniert und schließlich macht Europa die Schotten absolut dicht. Das Mittelmeer wird dann zur Mauer, die reich und arm für immer trennt.

Wiederum ist es nicht viel, das man bräuchte, um den Menschen eine Perspektive in ihren eigenen Ländern zu bieten. Menschen mit Perspektive wandern nämlich auch dann nicht in großen Massen, wenn die absoluten Unterschiede zwischen Nord und Süd noch immer groß sind. Wer sieht, dass es zuhause aufwärts geht, der packt nicht seine ganze Familie, seinen ganzes Geld und sein ganzes Leben, um auf einem Schlauchboot das Mittelmeer zu überqueren. 

Doch selbst diesem einfachen und klaren Punkt schiebt man schon jetzt einen argumentativen Riegel vor, indem man behauptet, die Wohlstandskluft als solche sei der wichtigste Grund für Migration und die Flüchtlinge seien nur darauf aus, in unser erfolgreiches Sozialmodell ein und aus ihrem dysfunktionalen Modell auszusteigen (hier z. B.). Dass die Modelle der meisten Entwicklungsländer dadurch dysfunktional geworden sind, dass wir ihnen unsere unsinnigen Rezepte aufgezwungen haben, wird natürlich ebenfalls verschwiegen. Auch dass Europa insgesamt so abweisend ist, weil es an seinen eigenen falschen Rezepten zu ersticken droht, bleibt vollständig außen vor. 

Übrigens, in das falsche europäische Bild passt, dass die Behauptung, in Deutschland hätte nach dem Zweiten Weltkrieg der Marshall-Plan die wirtschaftliche Wende und den Aufschwung gebracht, eine ähnlich schöne christsoziale Legende ist wie die, nach der es Ludwig Erhard war, der das „Wunder“ quasi im Alleingang zustande gebracht hat (vgl. dazu die Hinweise hier). Aber es kommt ja nicht auf eine realistische Sicht der Dinge an, sondern nur darauf, dass dem Volk glaubhaft gemacht werden kann, die politischen Führer hätten alles verstanden und alles im Griff.