Der Angebotsschock, der ein Nachfrageschock ist

Dieser Artikel ist heute auf Telepolis (www.heise.de) erschienen 

Ende September gab Bundesfinanzminister Christian Lindner in einem Namensartikel im Spiegel eine bemerkenswerte Diagnose über den Zustand der deutschen Wirtschaft ab. Er schrieb: „In der Coronakrise erlebten wir einen Nachfrageschock. Hier ersetzte der Staat mit Steuermitteln mangelnde Nachfrage. Heute haben wir einen Schock auf der Seite des Angebots. In Zeiten knapper Angebote müssen wir diese mit ambitionierten Maßnahmen erhöhen.“ 

Diese Aussage ist zunächst deswegen bemerkenswert, weil der Minister offensichtlich glaubt, der Staat könne mit „Steuermitteln“ mangelnde Nachfrage ausgleichen. Das aber kann er nicht. Wenn er erst die Steuern erhöhen muss, um die Mittel zu generieren, die er braucht, um die Nachfrage zu beleben, dann senkt er durch die Steuererhöhung die Nachfrage, die er erhöhen will. Nein, nein, lieber Herr Lindner, schauen Sie in ihre Bücher, dann werden Sie sehen, dass es neue Schulden waren, mit denen die Nachfrage gestützt wurde.

Noch gravierender ist jedoch das Missverständnis des Ministers hinsichtlich der Frage, was nach dem Nachfrageschock kam, der durch die Corona-Maßnahmen ausgelöst worden war. Hier glaubt der Minister, er habe es mit einem Angebotsschock zu tun. Das ist falsch. Es gibt zwar einen Angebotsschock, aber der hat einen massiven Nachfrageschock mit sich gebracht. Wenn der Bundesfinanzminister das nicht erkennt und die dahinterstehenden Zusammenhänge nicht versteht, dann macht er unweigerlich große Fehler, die ihm später auf die Füße fallen werden. 

Finanzierungssalden zeigen den Zusammenhang

Anhand der Finanzierungssalden (der Salden zwischen Einnahmen und Ausgaben) der volkswirtschaftlichen Sektoren lässt sich das schematisch sehr gut zeigen. Die privaten Haushalte sparen in Deutschland derzeit etwa 250 Milliarden Euro pro Jahr. Das heißt, dass es per se eine Nachfragelücke in dieser Größenordnung in der Volkswirtschaft gibt. Einkommen der privaten Haushalte werden vom Staat und den Unternehmen in der Größenordnung von 1600 Milliarden Euro pro Jahr ausbezahlt (die sogenannten Masseneinkommen), über die Käufe von Gütern und über Steuern kommen aber nur 1350 Milliarden zurück. Diese Lücke ist in den vergangenen fast zwanzig Jahren sehr zuverlässig vom Ausland geschlossen worden, das zuletzt ein Leistungsbilanzdefizit in dieser Größenordnung gegenüber Deutschland zu verzeichnen hatte.

Was im Zuge von Corona geschah, ist nun leicht zu verstehen. Die privaten Haushalte wurden auf die eine oder andere Weise daran gehindert, so viel Geld auszugeben wie in den Vorjahren, die Einkommen liefen aber größtenteils (vom Staat in erheblichem Maße unterstützt) weiter, so dass die Ersparnisse zulegten. Deren gesamte Summe, der Einnahmeüberschuss der privaten Haushalte also, stieg auf deutlich über 300 Mrd.€ in den Jahren 2020 und 2021. Das ist der Nachfrageschock, den Lindner meint. 

Ausgeglichen wurde dieser von den privaten Haushalten kommende Nachfragerückgang im Jahr 2021 durch den Staat und- wiederum – durch das Ausland. Das staatliche Defizit belief sich auf gut 130 Mrd. €, das Defizit des Auslandes stieg sogar auf 260 Mrd.€. Die deutschen Unternehmen machten folglich (die Salden müssen sich, wie hier gezeigt, immer zu Null addieren) einen Überschuss von über 100 Mrd., was sogar eine „Verbesserung“ ihrer Position bedeutete. 

Außenwirtschaftliche Wende 2022

Im vergangenen Jahr änderte sich das Bild jedoch auf dramatische Art und Weise. Zwar reduzierten die Haushalte ihre Ersparnisse wieder auf einen Wert von etwa 230 Mrd.€, was den Unternehmen eine gewisse Entlastung brachte. Für den Staat bedeutete das aber keineswegs die Möglichkeit, seinen eigenen Ausgabenüberschuss (seine Nettoverschuldung) zurückfahren zu können. 

Der Anstieg der Rohstoffpreise, der für sich genommen tatsächlich als Angebotsschock bezeichnet werden kann, brachte nämlich eine drastische Verringerung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses mit sich. Von 270 Mrd. halbierte er sich fast auf 150 Mrd.€. Die Öl- und Gasrechnung stieg in ungeahnte Größenordnungen. Damit entstand erneut eine gewaltige Nachfragelücke in Deutschland. Diese wurde zwar vom Staat mit einem Defizit von fast 100 Mrd. weitgehend geschlossen, die Spar-Position der Unternehmen ging gleichwohl erheblich zurück. 

Der Grund für die Nachfragelücke ist leicht zu verstehen. Diejenigen auf dieser Welt, die vom Anstieg der Preise für die Rohstoffe profitierten, fragten bei weitem nicht so viel nach, wie ihren zusätzlichen Einnahmen entsprochen hätte. Mit anderen Worten: ihre Ersparnisse sind dank sehr hoher Sparquote gestiegen, was bedeutet, dass es 2022 wiederum einen Nachfrageschock durch steigende Ersparnisse gab, diesmal ausgelöst vom Ausland und nicht vom Inland. Wenn Lindner es prinzipiell für richtig hält, auf solche Nachfragelücken mit der (schuldenfinanzierten) Erhöhung der staatlichen Nachfrage zu reagieren, dann müsste er es auch diesmal tun. 

Was passiert 2023? Die meisten Prognostiker haben sich auf eine Variante eingelassen, bei der die privaten Haushalte in Deutschland ihre Ersparnisse noch einmal deutlich reduzieren, von 230 auf etwa 190 Mrd.€. Das ist angesichts der sinkenden Realeinkommen der Bevölkerung allerdings nicht besonders realistisch. Auch erwarten sie eine leichte Verbesserung bei der Leistungsbilanz um ca. 20 Mrd. In diesem Szenario muss der Staat, um die Position der Unternehmen auf dem Niveau von 2022 zu halten, mindestens 30 Mrd. € neue Schulden machen. Verringern die privaten Haushalte ihre Sparquote allerdings nicht, steigt die Summe, die vom Staat aufgebracht werden muss, auf 70 Mrd.€. 

Wohlgemerkt, auch bei einem solchen Einsatz des Staates würden die Unternehmen auf einem Niveau gehalten, das sie in einer Rezession vermutlich als bedrohlich empfinden. Versuchen die Unternehmen durch eigene Ausgabenkürzungen und verringerte Investitionen ihre Situation zu verbessern, wird die Lage für die Gesamtwirtschaft deutlich schlechter ausfallen. Weil zudem auch noch die Zinsen steigen, ist eine Belebung der Investitionstätigkeit, wie sie die Prognostiker und die Regierung in ihrer Projektion für 2023 unterstellen, vollkommen unplausibel. 

Ein Einbruch der Investitionen ist das wesentlich wahrscheinlichere Resultat und damit die Aufgabe des Staates, erneut mit noch mehr neuen Schulden dagegenzuhalten. Von einer Rückkehr zur Schuldenbremse kann nur reden, wer nicht weiß, dass jeder Versuch, die staatlichen Defizite in diesem Jahr erheblich zu reduzieren, die Situation der Unternehmen unmittelbar und massiv weiter verschlechtert. Man staunt, dass der Vorsitzende einer Partei, die gerne unternehmernah sein will, das nicht weiß.

Anhaltende Ungleichgewichte in der EWU

Es kann auch ganz anders kommen. Der deutliche Rückgang der Rohstoffpreise in den letzten Monaten kann dazu führen, dass sich der deutsche Leistungsbilanzüberschuss sehr schnell erholt. Sinkt die Öl- und Gasrechnung und bricht die Weltkonjunktur nicht ein, kann sich der deutsche Überschuss sehr schnell wieder in Richtung 200 Mrd.€ und mehr bewegen und die Nachfragelücke der privaten Haushalte weitgehend schließen. Dann ist zwar der Finanzminister noch nicht aus dem Schneider, weil die Investitionstätigkeit der Unternehmen trotzdem einbrechen kann, aber er müsste weit weniger in die Verschuldung gehen.

Bei dieser „Lösung“ ist aber gerade für den Bundesfinanzminister zu bedenken, dass Deutschland mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen weiterhin ein Ungleichgewicht in der Europäischen Währungsunion schafft, das den von allen Mitgliedsstaaten akzeptierten Vorgaben des sogenannten Europäischen Semesters eklatant widerspricht. Würde Deutschland diesen Vorgaben entsprechen und das Ungleichgewicht deutlich verringern, müsste der deutsche Staat in jedem Jahr hohe staatliche Defizite hinnehmen, um eine permanente Schrumpfung der deutschen Wirtschaft zu verhindern. Die Schuldenbremse in der deutschen Verfassung kann nur einhalten, wer permanent gegen europäisches Recht verstößt.