Es ist immer die gleiche Geschichte. Ökonomen beschäftigen sich sehr gerne mit den Schulden des Staates, aber sie betrachten üblicherweise die staatlichen Schulden in Isolation. Man kappt alle Verbindungen des Staates mit den übrigen gesamtwirtschaftlichen Vorgängen und tut so, als sei der Staat vergleichbar mit einem extrem kleinen privaten Haushalt oder einem Kleinunternehmen. Konsequenterweise kommt in solchen Analysen die entscheidende Aufgabe des Staates, nämlich die Wirtschaft zu stabilisieren, überhaupt nicht vor.
Ein schlagendes Beispiel findet sich jüngst in der Financial Times. Dort schreibt Robin Brooks (Senior fellow bei Brookings Institution und Chief FX strategist bei Goldman Sachs) über Japans „Schuldenwahnsinn“ („Japan needs to end ist dangerous debt delusion“), aber er erreicht niemals die intellektuelle Ebene, auf der relevante Aussagen möglich sind.
Dieses Vorgehen ist üblich, aber es ist mehr als erstaunlich. Ich habe es schon oft gesagt, aber wer den Staat und seinen Schuldensaldo in Isolation untersucht, unterstellt, der Staat habe keinen Einfluss auf die Volkswirtschaft insgesamt und von der Volkswirtschaft einschließlich des Außenhandels gingen keine Wirkungen auf den Staat aus. Das ist offensichtlich falsch. Gerade diejenigen, die beklagen, dass der Staat zu groß geworden ist und in allen Bereichen seine Macht ausspielt, unterstellen bei ihren finanzwissenschaftlichen Analysen, der Staat spiele keine Rolle. Umgekehrt ist der Einfluss noch offensichtlicher. Der Staat muss auf Verschlechterungen und Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage reagieren, weil seine Einnahmen und seine Ausgaben (und das Wahlergebnis der Politiker) davon unmittelbar abhängen.
Die beste und die logisch zwingende Art, den Staat und seinen Schuldenstand mit dem Rest der Volkswirtschaft zu verbinden, sind die Finanzierungssalden. Sie zeigen quasi auf einen Blick, wie in der gesamten Volkswirtschaft und in der gesamten Welt Einnahme und Ausgabendefizite einzelner Sektoren miteinander zusammenhängen. Wer in dieser Welt einen Überschuss seiner Einnahmen gegenüber seinen Ausgaben erzielen will, wer also sparen will (also unter seinen Verhältnissen leben will), braucht irgendwo auf der Welt ein Gegenüber, das genau das Gegenteil tut, also mehr ausgibt als es einnimmt (also über seinen Verhältnissen lebt). Findet er dieses Gegenüber nicht, muss er seine Sparpläne kürzen oder das gesamtwirtschaftliche Einkommen (und sein Einkommen) sinkt so lange, dass er gezwungen ist, seine Sparpläne zu reduzieren.
Die Welt insgesamt kann immer nur so viel ausgeben wie sie einnimmt und, das ist die Seite, die viele nicht verstehen, sie kann auch nur so viel einnehmen, wie sie ausgibt. Die Welt kann weder unter noch über ihren Verhältnissen leben. Nur einzelne Länder können Überschüsse der Einnahmen über die Ausgaben aufweisen (Leistungsbilanzüberschüsse), denen zwingend Leistungsbilanzdefizite in anderen Ländern gegenüberstehen. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Sparpläne auf der einen Seite und die Bereitschaft, sich zu verschulden auf der anderen Seite, zu einer insgesamt zufriedenstellenden wirtschaftlichen Entwicklung führen. Das bedeutet, dass der Staat niemals auf eine rationale Art und Weise seine Schuldensituation einschätzen und bewerten kann, wenn er nicht weiß oder nicht beachtet, was bei den übrigen Sektoren passiert.
In Japan ist es nicht anders. Japan stand seit Beginn der 1980er Jahre unter massivem amerikanischem Druck, um seine Leistungsbilanzüberschüsse zu reduzieren. Als das zu Beginn der 1990er Jahre gelungen war, geriet das Land allerdings in eine Finanzkrise, die zu einem fundamental veränderten Verhalten der Unternehmen führte. Die Unternehmen begannen per Saldo zu sparen, erzielten also Jahr für Jahr Einnahmeüberschüsse. Richard Koo war der erste Ökonom, der dieses Verhalten beschrieben und die richtigen Schlüsse daraus gezogen hat (The Holy Grail of Macroeconomics).
Zusammen mit dem Sparen der privaten Haushalte, erreichten die Einnahmeüberschüsse des privaten Sektors bis zur Jahrtausendwende in Japan Werte zwischen 8 und 12 Prozent des BIP. Diesen Nachfrageausfällen von Seiten der Privaten standen zu dem Zeitpunkt nur noch Ausgabeüberschüsse des Auslandes (japanische Leistungsbilanzüberschüsse) von zwei bis drei Prozent des BIP gegenüber. Wer hätte die Nachfragelücke füllen sollen? Wer diese Frage nicht beantwortet, kann nicht sachverständig über die staatlichen Finanzen in Japan urteilen.
In den letzten zehn Jahren lag der japanische Leistungsbilanzüberschuss in der Größenordnung von zwei bis drei Prozent. Die private Ersparnis (Haushalte und Unternehmen) bewegte sich in der Größenordnung von 7 bis 8 Prozent. Was hätte der japanische Staat tun sollen? Jeder Absturz der Wirtschaft hätte staatliche Hilfsmaßnahmen nach sich gezogen, die wiederum die Verschuldung des Staates nach oben getrieben hätten.
In Japan hat gerade eine konservative Regierung ein Konjunkturprogramm in Höhe von mehr als 100 Milliarden Euro beschlossen. Sie getan, obwohl die Staatsverschuldung Japans weit über 200 Prozent am BIP liegt, also unvergleichlich viel höher als in Deutschland und sogar als in den USA. Aber so ist nun einmal die ökonomische Logik: Ganz gleich, wie hoch das Niveau der Staatsverschuldung ist, bei einer drohenden Rezession muss der Staat die Verschuldung deutlich erhöhen, um die Wirtschaft so zu beleben, dass auch die Privaten weniger sparen oder sich verschulden und investieren. Tut er das nicht, kann er eine höhere Neuverschuldung nicht vermeiden, er ist dann allerdings in einer weit schlechteren Position, weil er eine tiefe Rezession bekämpfen muss, statt sie zu verhindern.
In Europa werden diese Zusammenhänge von der großen Mehrheit der Ökonomen ignoriert, weil sie nicht in ihr ideologisches Konzept eines Nachtwächterstaates passen. Die deutsche Schuldenbremse und die europäischen Schuldenregeln sind legale Konstrukte, denen keine ökonomische Logik innewohnt. Beide führen systematisch zu fiskalpolitischen Aktionen, die Schaden anrichten oder nicht durchhaltbar sind, weil sie die entscheidende Aufgabe des Staates, nämlich die Wirtschaft zu stabilisieren, vollständig vernachlässigen.
Gerade in Deutschland zeigt sich, wie eng Merkantilismus und fiskalische Ignoranz bezüglich der makroökonomischen Zusammenhänge verbunden sind. Ohne die Verschuldung des Auslandes hätte Deutschland in den vergangenen beiden Jahrzehnten die staatliche Schuldenquote nicht niedrig halten können. Noch im Jahr 2019 war das Ausland der einzige Nettoschuldner. Weil die Leistungsbilanzüberschüsse danach gesunken sind, musste in all den Folgejahren der Staat einspringen. Die deutschen Unternehmen und die privaten Haushalte waren seit Beginn des Jahrhunderts immer Nettosparer.
Jeder Mensch, der ein Minimalverständnis von Ökonomik hat, muss anerkennen, dass nur eine Theorie, die felsenfest beweisen würde, dass Sparen immer und sofort zu Investieren und Verschuldung auf Seiten der Unternehmen führt, das Sparproblem lösen könnte. Eine solche Theorie gibt es jedoch nicht. Die Neoklassik hat allerdings, weil sie immerhin die Bedeutung der Problematik verstanden hat, über den Zins eine automatische Umwandlung von Sparen in Investieren zu konstruieren versucht. Das ist eindeutig gescheitert, doch man muss sich damit nicht mehr aufhalten. Die Tatsache, dass der Finanzierungssaldo die Unternehmen in den meisten Ländern der westlichen Welt seit etwa 20 Jahren als Nettosparer ausweist, zeigt unzweifelhaft, dass es den neoklassischen Nexus nicht gibt. Wer das bei einer Analyse der Staatsschulden ignoriert, kommt zu absurden Ergebnissen und kann sich nicht mehr auf Wissenschaft berufen.