Der „Sozialstaat“, das IW und eine Irrsinnsdebatte um Stellen hinter dem Komma

Wenn man verstehen will, wie absurd die deutsche Debatte um den Sozialstaat ist und wie unterirdisch das Niveau der wirtschaftspolitischen Debatte allgemein ist, muss man sich den Kampf um Zahlen anschauen, der zwischen dem Lobbyinstitut IW und einigen Verteidigern des Sozialstaats ausgebrochen ist. Das IW, das Institut in Köln, das vollständig unter der Kontrolle der Arbeitgeberverbände steht, hat einen Vergleich der Größe des Sozialstaats in verschiedenen Ländern vorgenommen, der ein großes Medienecho ausgelöst hat.

Deutschland sei der europäische Spitzenreiter, hat der Spiegel daraus abgelesen. Das stimmt nicht ganz, weil das IW zwar schreibt, Deutschland sei Spitze, aber es sagt nicht explizit, Deutschland sei Spitzenreiter (hier zum Nachlesen). Der Spiegel entblödet sich zudem nicht, die Verfasser dieser Lobbyschrift „die Gelehrten“ zu nennen. Das sagt alles über dieses Blatt, das sich seit Jahrzehnten schon als Geheimwaffe des Neoliberalismus versteht, aber in der Öffentlichkeit von vielen immer noch als kritische Stimme ernst genommen wird.

Gegen die Behauptung des Arbeitgeberinstitut hat nun das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) die Aussage gestellt, Deutschland sei keineswegs europäischer Spitzenreiter bei den Sozialausgaben, woraufhin wiederum das IW sagt, es habe genau das niemals behauptet, obwohl es von vielen Presseorganen genau so zitiert worden ist.  Das BIAJ verweist auch auf eine Tabelle von Eurostat (hierzu finden), aus der man klar ablesen kann, dass Deutschland nicht Spitzenreiter ist.

Obwohl die Sachlage klar ist, ist die Diskussion darüber vollkommen absurd. Vor allem die Verteidiger des Sozialstaats sollten sich nicht auf solche lächerlichen Rankings einlassen. Was wäre, wenn Deutschland im Jahr 2023 (das ist das letzte verfügbare Jahr) tatsächlich 41,6 statt 40,6 Prozent aufgewiesen hätte und folglich über den drei anderen großen Ländern der EWU gelegen hätte (die kleinen Länder sind sowieso uninteressant)? Müsste man dann noch viel dringender den „Sozialstaat reformieren“? Müsste man dann den Lobbyisten vom IW Recht geben? Ginge Deutschland etwa unter, wenn es 2023, wie übrigens in der Tabelle in allen Jahren vor 2019, einen Wert von über 42 Prozent aufweisen würde?

Ich habe vor einiger Zeit bereits darauf hingewiesen (hier), dass schon die Verwendung des Begriffs „Sozialstaat“ auf eine massive Verfälschung der Tatsache zielt, dass die Bürger in allen möglichen Systemen versuchen, sich gegen bestimmte Risiken abzusichern. Mal tun sie das mit, mal ohne den Staat, aber das Ergebnis kann durchaus vergleichbar sein. Schon deswegen verbieten sich einfache internationale Vergleiche der via Staat gezahlten Beiträge (wie die in der oben genannten Tabelle) von vorneherein. 

Es wäre aber auch dann, wenn man gleichartige Institutionen hätte und international ernsthaft vergleichen könnte, vollkommen belanglos, wenn in einem Land das Niveau der Absicherung höher wäre als in einem anderen. Es würde ja nur bedeuten, dass die Bürger in einem Land etwas risikofreudiger sind als in einem anderen und sich weniger gut absichern, oder dass der Staat in einem Land auf eine höhere Absicherung pocht und in anderen nicht. Das mag einen gewissen Einfluss auf die wirtschaftlichen Strukturen der beiden Länder haben, mit der wirtschaftlichen Leistung der beteiligten Länder hat das absolut nichts zu tun. 

Der Sozialstaat als Verursacher einer wirtschaftlichen Schwächephase kommt immer nur denen in den Sinn, denen jedes Verständnis für die komplexe wirtschaftliche Dynamik einer Volkswirtschaft fehlt. Man folgt dem primitivsten aller Vorurteile, nämlich dass es in der Wirtschaft eigentlich immer nur um Markt versus Staat geht. Klappt etwas nicht, ist der Staat schuld, klappt alles gut, sind die Unternehmen einfach diejenigen, die den Karren aus dem Dreck ziehen. Experten, die auf solchen „Erkenntnissen“ beharren, sind wie die Quacksalber des Mittelalters, die nur ein paar Kräuter kannten, die sie jedem verabreichten, ganz gleich, ob es um eine Erkältung oder um eine Krebserkrankung ging.

Wie kann es sein, dass sich eine ganze Volkswirtschaft im 21. Jahrhundert auf solche uralten Holzwege verlässt? Statt eine differenzierte Diagnose der Ursachen der Misere zu versuchen (wie hier etwa geschehen), springen fast alle großen Medien auf den Ideologiezug, der von den immer gleichen Lobbyisten der Unternehmensverbände angeschoben wird. Dagegen können sich inkompetente Politiker nicht wehren. Aber auch die Volkswirte unternehmen nichts, um der öffentlichen Quacksalberei Grenzen zu setzen. Im Gegenteil, sie sind vorneweg dabei, weil sie nur so von den Unternehmensverbänden und der Politik gehätschelt werden. Ist das schon blanke Korruption – weil man ansonsten nicht zu den hoch dotierten Vorträgen der Arbeitgeber und der Banken eingeladen wird, oder ist es nur plumpe Anbiederung, weil man nicht den Mumm hat, den großen „Wirtschaftsbossen“ offen zu widersprechen?