Katherina Reiche ist der Star, aber für wen und für was?

Wenn bestimmte Kommentatoren bestimmte Politiker über den grünen Klee loben, ist größte Vorsicht geboten. Gabor Steingart hat sich nun bei Katherina Reiche weit herausgehängt. Die Ministerin für Wirtschaft, die eigentlich nur durch unglaublich dröge Mainstream-Kommentare auffällt, wird von ihm zum „Star der Merz-Truppe“ hochgeschrieben. Nun ist es wohl keine große Kunst, der Star einer Truppe zu sein, die vor allem durch ihre unglaubliche Biederkeit auffällt, aber wenn schon Frau Reiche ein Star ist, was sind dann die anderen?

Doch dahinter steht etwas anderes als die Person Reiche. Dahinter steht ein Programm, das ich schon vor einiger Zeit als offene Kampfansage an die SPD bezeichnet habe. Mit der Wahl ihrer wirtschaftspolitischen Berater hat die Bundeswirtschaftsministerin ein klares Signal an alle libertären Kräfte im Land gesendet. Seht her, heißt das, ich kann es noch nicht offen sagen, aber ich werde, im Namen Ludwig Erhards natürlich, alles dafür tun, dass sich libertäres Gedankengut durchsetzt und alles Rote und Grüne von der Landkarte getilgt wird. Sie weiß zwar nichts über Wirtschaft, aber sie weiß ganz genau, was sie ideologisch will.

Sie ist in der Tat konkurrenzlos, da hat Steingart Recht. Bei einem wirtschaftspolitisch unbedarften Kanzler und einem nicht minder unbedarften Finanzminister braucht sie keine glänzenden Reden halten oder sachlich überzeugende Interviews zu geben, es genügt, wenn sie Tag für Tag die primitivsten Vorurteile wiederholt und den deutschen Unternehmerverbänden in Sachen liberaler Plattitüden Konkurrenz macht. Gerade wurde sie auf dem Arbeitgebertag überschwänglich gelobt, weil sie sage, was ist. Ich weiß nicht, ob Friedrich Merz sie bewusst dafür ausgewählt hat oder nur, weil er eine ostdeutsche Frau im Kabinett brauchte, aber mit ihrer libertären Agenda schlägt Reiche auch eine Brücke zur AfD, die in Person von Alice Weidel vollkommen deckungsgleich ausgerichtet ist.

Sie sagt das, wie Steingart es ausdrückt, was die Bürger wissen müssen. Das klingt nach Sachverstand und wirtschaftspolitischer Kompetenz. In Wirklichkeit sagt sie das, was die Bürger immer wieder von den Lobbytruppen der Unternehmer hören, obwohl es nichts mit der volkswirtschaftlichen Wirklichkeit zu tun hat. Für Arbeitgeberpräsident Dulger spricht Reiche Klartext – und wer darauf mit Empörung reagiere, verweigere sich der Realität. Klar, es geht um die „Realität“ der Arbeitgeber, die in Deutschland niemals kapieren werden, dass die Volkswirtschaft vollkommen anders funktioniert als ihr Betrieb (wie hier gezeigt).

Einfache Vorurteile

Reiche sagt einfache Sätze wie: „Die umlagefinanzierte Rente darf nicht zu einer weiteren Belastung der Lohnnebenkosten führen. Reformen sind unumgänglich. Insofern hat die Junge Gruppe recht.“ Das klingt einleuchtend und außerdem sagen es die rechten Kreise schon immer. Die Lohnnebenkosten sind allerdings das älteste und zugleich das dümmste Argument, das die Neoliberalen seit dreißig Jahren auf der Pfanne haben (wie hier zuletzt gezeigt). So erfüllt Reiche einfach die Funktion eines noch relativ unverbrauchten Lautsprechers, der zwar immer die gleiche Parole verbreitet, aber diesmal in Gestalt einer Person, der man ihre ideologische Härte nicht sofort ansieht.  

Das ist schlimm, weil es Deutschland die letzte Chance nimmt, auf einen vernünftigen Weg einzuschwenken. Ein Bundeskanzler, bei dem inzwischen auch der Letzte gemerkt hat, dass Wirtschaft für ihn ein Buch mit sieben Siegeln ist, ein Finanzminister, der erkennbar dilettiert und eine Bundeswirtschaftsministerin, die sich darin gefällt, libertäre Parolen abzusondern, das soll die Mannschaft sein, mit der Deutschland die schwerste wirtschaftliche Krise meistern will, der es seit drei Jahrzehnten gegenübersteht?

Flaute ohne Ende?

Gestern ist der Geschäftsklimaindex des ifo-Instituts für November erschienen, der wiederum anzeigt, das die deutsche Wirtschaft bestenfalls stagniert. Damit ist auch dieses Jahr gelaufen. Was nichts anderes heißt, als dass die deutsche Wirtschaft seit dem dritten Quartal 2022 auf dem abschüssigen Ast sitzt. Das sind dreieinhalb Jahre, in denen zwei ökonomische Laienspieltruppen, die sich Bundeskabinett nannten, darüber brüteten, wie man mit „Reformen“ die Wirtschaft wieder zum Laufen bringt. Wie lange soll das noch weitergehen?

In Japan hat gerade eine konservative Regierung ein Konjunkturprogramm in Höhe von mehr als 100 Milliarden Euro beschlossen, das vorwiegend zu einer Entlastung der privaten Haushalte verwendet werden soll. Wie einfach! Und das hat die japanische Regierung getan, obwohl die Staatsverschuldung Japans weit über 200 Prozent am BIP liegt, also unvergleichlich viel höher als in Deutschland. Aber Japan folgt damit der ökonomischen Logik: Ganz gleich, wie hoch das Niveau der Staatsverschuldung ist, bei einer Flaute muss der Staat die Verschuldung deutlich erhöhen, um die Wirtschaft so zu beleben, dass auch die Privaten weniger sparen oder sich verschulden und investieren. Tut er das nicht, hat er eine Chance vertan und seine Verschuldung steigt dennoch.

Eine einfache Rechnung

Nach den jüngsten Berechnungen des Sachverständigenrates und der Forschungsinstitute lag das Gesamtdefizit des Staates (in der Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, also unter Einschluss der Sozialversicherungen) in diesem Jahr bei etwa 100 Milliarden Euro und damit sogar um 15 Milliarden unter dem des Vorjahrs. Im nächsten Jahr erwartet man ein Defizit von knapp unter 150 Milliarden. 

Das klingt auf den ersten Blick nach einer hohen Neuverschuldung, ist allerdings angesichts der Gesamtkonstellation der Daten eindeutig zu wenig. Bei einer Ersparnis (einem Nachfrageentzug) von Seiten der privaten Haushalte und der Unternehmen von etwa 300 Milliarden Euro in diesem Jahr (nach der Berechnung der Institute) und einem stark bröckelnden Leistungsbilanzüberschuss (vermutlich beträgt er nur noch 200 Milliarden in diesem Jahr), ist das Defizite des Staates lediglich ausreichend, um die Wirtschaft bei einer Stagnationslinie zu halten.

Im nächsten Jahr wird der Leistungsbilanzüberschuss vermutlich weiter sinken, was bedeutet, dass auch die deutliche Zunahme des staatlichen Defizits womöglich nicht ausreicht, um die Wirtschaft zu beleben. Da es auch von Seiten der Geldpolitik keine positiven Impulse gibt, kann man nicht erwarten, dass die Unternehmen von sich aus die Initiative ergreifen und sich verschulden. Damit wäre ein weiteres Jahr verloren. Wer dieses Risiko ausschließen will, muss, wie Japan, zum rasch wirkenden Mittel eines Konjunkturprogramms greifen.

Diese einfachen Zusammenhänge begreift jedoch in Deutschland kein Spitzenpolitiker und keiner der Ökonomen, die sich gern die „führenden“ nennen. Sie führen aber nur die Kleingeistigkeit an, der sich Deutschland schon vor vielen Jahrzehnten verschrieben hat. So kommt es, wie es kommen muss: Deutschland redet unentwegt über „Reformen“ und verschläft trotz höherer Verschuldung des Staates die eigentliche Aufgabe, nämlich die Nachfrage auf einem Niveau zu halten, bei dem investiert wird und neue Arbeitsplätze entstehen.