(Dieser Artikel ist heute bei Telepolis erschienen)
Wann immer die schwäbischen Hausfrauen aus ihrer Lethargie erwachen, weil die Marktwirtschaft den Hausherren nicht mehr genügend Gewinne liefert, kennen sie nur einen Feind. Den Sozialstaat! Schon in den 1970er Jahren riefen die Unternehmensverbände und ihre pseudo-wissenschaftlichen Institute in Kiel und anderswo eine „Euro-Sklerose“ aus, weil Europa nicht in der Lage war, die zentralen makroökomischen Zusammenhänge zu begreifen. Unter Sklerose tun sie es jetzt auch nicht. Eine „Germano-Sklerose“ diagnostiziert Michael Hüther vom IW, dem Lobbyinstitut der Arbeitgeber.
Jeder, der das Wort Wirtschaft sagen kann, faselt von den unerträglichen Belastungen durch den Sozialstaat und die ganze Medienmeute faselt natürlich mit. Die FAZ hat ihren Wirtschaftsredakteuren offenbar einen Bonus versprochen, wenn es ihnen gelingt, innerhalb eines Monats den Sozialstaat zehn Mal in einem Kommentar die Pfanne zu hauen. In der Süddeutschen Zeitung fordert ein Redakteur, der offensichtlich nichts mit Wirtschaft am Hut hat, die SPD müsse sich „an den Sozialstaat wagen“. Es ist an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten, was diese Leute von sich geben. Wenn man allerdings bedenkt, dass sie für jeden Unsinn einen deutschen Ökonomen finden, der ihre Vorurteile zu einhundert Prozent bestätigt, weiß man, dass die Medien nur der Abklatsch eines verfehlten Wissenschaftsbetriebes sind.
Doch politisch zählt das Ergebnis und da kann man sicher sein, dass Unwissen und Lobbyismus gewinnen. Dummerweise ist damit aber nichts für die gewonnen, um die es eigentlich geht, nämlich die Unternehmen. Ich will nicht wiederholen, was ich vor einiger Zeit über die Unternehmer geschrieben habe, aber es wird mit jeder Äußerung aus der Wirtschaft selbst bestätigt. Man muss nur einmal nachlesen, was der Vorstandsvorsitzende der Allianz, Oliver Bäte kürzlich bei einer Konferenz in Frankfurt zum Besten gegeben hat. Der Mann kennt jedes einzelwirtschaftlich/betriebswirtschaftliche Vorurteil, das man sich nur denken kann – bis hin zu dem Kinderglauben, dass die Lohnnebenkosten zu hoch sind (wie hier gezeigt). Von Makroökonomik hat er noch nie etwas gehört, gibt aber wortgewaltig wirtschaftspolitische Ratschläge.
Was ist der Sozialstaat?
Schon der Begriff ist völlig daneben. Es geht nicht um einen Staat im Staate, sondern es geht bei den Sozialleistungen lediglich darum, ob man die Zahlungen so organisiert, dass sie staatliche Institutionen durchlaufen oder nicht. Fast jeder Mensch wird in jedem halbwegs organisierten Land der Welt bereit sein, Teile seines laufenden Einkommens dafür aufzubringen, dass er im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter eine gewisse Absicherung hat und nicht in Armut fällt. In manchen Ländern ist das rein privatwirtschaftlich organisiert, in anderen staatlich oder halbstaatlich.
Wenn man für die entsprechenden Versicherungen privat 30 Prozent seines Einkommens aufbringt, taucht es in keiner Statistik auf und niemand kümmert sich darum. Wenn aber die Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter (allein aus Gründen einer größeren Verlässlichkeit) staatlich kontrolliert oder organisiert sind, dann nennt man das „Sozialstaat“ und glaubt als Neoliberaler, der richte per se Schaden an. Welch ein Unfug!
Die Leistungen, die den 30 Prozent des Einkommens der Masse der Menschen entsprechen, werden in beiden Systemen überwiegend von privaten Unternehmen erbracht, denen es vollkommen egal ist, ob die Zahlungen über eine rein private Versicherung an sie fließen oder über eine staatlich organisierte Versicherung. Auch ist es gleichgültig für die Käufe von Gütern und Dienstleistungen, die von Rentnern, Kranken und Arbeitslosen bei den Unternehmen getätigt worden, ob die Einkommen direkt von einer privaten Versicherung kommen oder von einer, bei der der Staat eine gewisse Kontrollfunktion hat.
Dieser „Sozialstaat“, so hören wir es aus allen konservativen Ecken und vorneweg vom Bundeskanzler, sei nicht mehr „finanzierbar“. Nur, was sollte daran nicht finanzierbar sein? Wenn die Menschen eine gute Gesundheitsversorgung wünschen, sich vor Altersarmut schützen wollen und sich bewusst gegen Arbeitslosigkeit absichern, warum sollten sie nicht 30 Prozent oder auch 35 Prozent ihres Einkommens dafür aufwenden. Welcher illiberale Geist will ihnen das verbieten? Und wem schadet das? Es gibt keinen Geschädigten, aber unglaublich viele Ankläger. Was soll das?
Dass auch die Sozialsysteme, wie alle menschengemachten Systeme, die wir auf dieser Welt haben, immer wieder einmal auf Effizienz und „Zielgenauigkeit“ geprüft werden müssen, ist eine Trivialität. Das zu tun, ist eine Daueraufgabe, hat aber nichts, absolut nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun. Wenn man allerdings mit Gewalt die Sozialsysteme nutzt, um Wirtschaftspolitik zu betreiben, dann macht man sicher etwas falsch.
Die SPD wird es niemals verstehen
Genau das aber kann die Partei, die sich eigentlich die Verteidigung vernünftiger Sozialsysteme auf die Fahnen geschrieben hat, niemals verstehen. Die SPD hat, weil sie über keinerlei Kenntnis von Makroökonomik und Wirtschaftspolitik verfügt, den neoliberalen Einpeitschern nichts entgegenzusetzen.
Der oberste Nebelwerfer der Republik mit Namen Frank-Walter Steinmeier hat gerade vorgeführt, wie man den Sozialstaat auf elegante Art und Weise zum wichtigsten Mittel der Wirtschaftspolitik erklärt. Der Sozialstaat sei ein Schatz, sagt er, doch wenn es wirklich ernst wird, muss man diesen Schatz schnell über Bord werfen. Die „Arbeitsmarktkrise“ der Jahrtausendwende habe man schließlich genau so gemeistert. Durch die Reform des Sozialstaats könne man verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Im Klartext: Jetzt eine neue Agenda, Lohnkürzung und Sozialabbau, und alles wird wieder gut.
Wirtschaftskrieg und Merkantilismus sind die „Lösung“
Da treffen sich die Sozialdemokraten mit denen, die schon immer wussten, dass nur das enger schnallen des Gürtels in ökonomisch schwierigen Zeiten die Lösung bringt. Nur wer bereit ist zu leiden, wird am Ende belohnt. Nur wer in der Lage ist, andere Länder wirtschaftlich zu besiegen, weil er besser leiden kann, wird der Sieger sein. So schreibt die Deutsche Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom Juli, den der sozialdemokratische Präsident dieser Institution in den höchsten Tönen gelobt hat:
„Fakt ist, dass sich nicht nur das Wachstum der deutschen Absatzmärkte verlangsamt hat. Vielmehr haben sich die deutschen Ausfuhren noch deutlich schwächer entwickelt. Dies bedeutet, dass die deutsche Exportwirtschaft Anteile auf dem Weltmarkt eingebüßt hat.
Hätten die deutschen Ausfuhren mit den Absatzmärkten Schritt gehalten, wäre die deutsche Wirtschaft zwischen 2021 und 2024 um fast 2 ½ Prozentpunkte stärker gewachsen. Das ist eine ganze Menge. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Zeitraum mehr oder weniger stagniert hat.“
Klar, hätten die Deutschen nur den Gürtel enger geschnallt, hätten sie verhindert, dass die Chinesen und andere Entwicklungsländer Weltmarktanteile gewinnen. Mit anderen Worten: Hätte man die Löhne (und die Lohnnebenkosten natürlich) so stark gesenkt (und den Wechselkurs des Euro so manipuliert, dass er nicht aufgewertet hätte), dass selbst die Chinesen keine absoluten Vorteile mehr gehabt hätten, dann hätte Deutschland einen noch viel größeren Leistungsbilanzüberschuss erzielt und stärker wachsen können.
Das ist an Dummheit und/oder Perfidie nicht mehr zu überbieten. Dass man dabei die Binnenkonjunktur kaputt macht und die Handelspartner an die Wand drückt, interessiert in Frankfurt niemanden. Auch hätte Herr Trump in dem Fall gegenüber Deutschland sicher Zölle in Höhe von einhundert Prozent verhängt. Irgendwo auf der Welt aber, glauben die Notenbanker, hätten wir schon Idioten gefunden, die Made in Germany gekauft hätten, weil sie nicht merkten, dass die „wettbewerbsfähigen“ deutschen Produkte das Ergebnis von primitivem Lohndumping sind.
Die Bundesbank entblödet sich nicht, in gleicher Weise wie das Arbeitgeberinstitut (siehe den Hinweis hier), die deutschen Lohnstückkostenentwicklung der letzten Jahre mit anderen europäischen Ländern zu vergleichen und, weil sie als Basis 2017 wählt, den Eindruck zu erwecken, Deutschland falle zurück (siehe die Graphik in der Mitte). Das ist reine Lobbyarbeit von einer Institution, die immer noch hohe Glaubwürdigkeit in Deutschland genießt, obwohl sie längst alles aufgegeben hat, was Glaubwürdigkeit begründen könnte.

Mehr als witzig an dieser Graphik (rechte Seite) ist allerdings, dass die deutschen Unternehmen die Bürokratie exakt seit 2023 als Problem betrachten. Selbst Italien wird in den letzten Jahren überboten, weil halb Deutschland genau zu dem Zeitpunkt angefangen hat, über ausufernde Bürokratie zu klagen. Vorher gab es die einfach nicht.