Wettbewerbsfähigkeit: Europa unterliegt einem schweren Irrtum

(dieses Stück ist gestern in einer leicht geänderten Version bei dem neuen Wirtschaftsmagazin „Surplus“ erschienen; Surplus-Magazin.de)

Das Thema ist nicht totzukriegen. Wettbewerbsfähigkeit ist in Europa seit dem berühmten Gipfel von Lissabon (im Jahr 2000) das Thema schlechthin. Mit dem Auftrag der Kommission vom vergangenen Jahr an Mario Draghi, einen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit abzufassen, hat es neue Virulenz erreicht. Mit diesem Thema, mehr als mit jedem anderen, zeigt die politische Elite Europas allerdings, dass sie den ökonomischen Herausforderungen intellektuell einfach nicht gewachsen ist.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wusste schon vor fast genau zehn Jahren:

„Solide Haushalte sind das eine. Das andere große Thema ist: Wachstum entsteht nur durch Wettbewerbsfähigkeit; und die Wettbewerbsfähigkeit im Euroraum lässt in Teilen zu wünschen übrig. Das heißt also, wir müssen nicht nur über Investitionen sprechen. Das ist sicherlich richtig. Im Übrigen will ich noch einmal darauf hinweisen: Die große Masse der Investitionen muss aus dem privaten Bereich kommen. Der Staat kann zusätzlich etwas tun, aber es ist nicht die Zeit für schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme, wie wir sie in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise hatten.“

„Wachstum entsteht nur durch Wettbewerbsfähigkeit“! Das ist eine Aussage, die in ihrer Naivität schon kaum zu übertreffen ist. Doch zu glauben, dass die Tatsache, dass andere in Europa nicht so wettbewerbsfähig waren wie Deutschland, zu Wachstumsverlusten für ganz Europa geführt hat, ist gefährlicher Unsinn. Mit anderen Worten, die geistige Grundlage der gesamten deutschen und europäischen Politik in den 16 Jahren der Ära Merkel war schlicht und einfach falsch. Doch nun macht sich Friederich Merz auf, genau diese Politik mit einer Agenda 2030 zu wiederholen.

Wird die Welt wettbewerbsfähig?

Wie entsteht das Wachstum in der Welt als Ganzes? Durch die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit? Gegenüber wem? Gegenüber dem Mars? Hätte Angela Merkel die Steigerung der Investitionen, der Nachfrage oder der Produktivität angemahnt, man könnte sofort eine vernünftige Diskussion starten, wie das zu bewerkstelligen ist. Wenn man sich aber ein Ziel setzt, das aus logischen Gründen nicht erreichbar ist, kann es nur in die Hose gehen. 

Es war und ist ökonomischer Unsinn, wenn Länder sich dadurch retten wollen, dass sie ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Es ist eine seit über 200 Jahren für überwunden gehaltene Auffassung, die man Merkantilismus nennt, die hier fröhliche Urständ feiert. 

Angela Merkel hat aber trotz all der Konfusion noch etwas Richtiges von Jacques Delors zitiert. Der sagte nämlich, dass es in Europa um wirtschaftspolitische Koordinierung geht, weil man eine Währung nicht auf Dauer stabil halten kann, wenn jeder sein eigenes Verständnis von Wettbewerbsfähigkeit hat. Das stimmt. Man hätte sich in der EWU von Anfang an darauf einigen müssen, was Wettbewerbsfähigkeit ist, und vor allem, wie man sie gegenseitig ausbalanciert. Man kann die Währung auf Dauer nur stabil halten, wenn sich alle an die gemeinsam beschlossene Linie halten und das kann nur das gemeinsam beschlossene Inflationsziel sein. Dagegen hat Deutschland mehr als alle anderen verstoßen. 

Der Gedanke des Wettbewerbs bezieht sich ursprünglich auf den Wettbewerb zwischen Unternehmen. Da gehört er auch hin. Unternehmen sollen sich im Wettbewerb bewähren, und das beste Unternehmen soll sich durchsetzen und erfolgreich sein dürfen. Aber auch das ist nur akzeptabel, wenn alle Unternehmen faire Ausgangsbedingungen haben. Die wichtigste ist, dass alle Unternehmen in einem Land für gleich qualifizierte Arbeit den gleichen Lohn bezahlen müssen. Nur wenn das gegeben ist, können sie in fairer Weise, nämlich über Anstrengungen zur Verbesserung der eigenen Produktivität (oder der Qualität der produzierten Güter und Dienstleistungen) Vorteile erringen. 

Wenn ein ganzes Land Wettbewerbsvorteile gegenüber einem anderen Land hat aus Gründen, die nichts mit dem einzelnen Unternehmen zu tun haben, aber allen Unternehmen des einen Landes zugutekommen, ist das zwischen Industrieländern immer problematisch[1]. Dann ist nämlich der Wettbewerb der Unternehmen zwischen beiden Ländern verzerrt. Von welcher Art diese Vorteile sind, spielt dabei keine große Rolle. Ob das Land Importzölle erhebt, die Steuern für seine Unternehmen besonders stark senkt oder ob es seinen Unternehmen hohe Subventionen gibt, ob die Währung eines Landes unterbewertet ist oder ob die Politik des Landes in einem System fester Wechselkurse (oder einer Währungsunion) mit dafür gesorgt hat, dass die Löhne für alle Unternehmen weniger steigen (im Verhältnis zur Produktivität) als in den Ländern, mit denen man sich auf den festen Kurs geeinigt hat, immer entsteht ein Vorteil für alle Unternehmen des einen Landes, der die Unternehmen in den Partnerländer (ganz gleich, ob es dort im Wettbewerb eher starke oder schwache Unternehmen sind) systematisch schädigt.

Unbestritten muss in jeder internationalen Ordnung sein, dass sich die anderen Länder gegen solche artifiziellen Vorteile wehren und ihre Unternehmen vor den damit verbundenen Nachteilen schützen dürfen. Also ist es erlaubt, (auch entsprechend der Regeln der Welthandelsorganisation) eigene Zölle einzuführen, die eigene Währung abzuwerten oder ein Dumping-Verfahren gegen solche Länder anzustrengen, die ihre heimischen Unternehmen stützen. 

Der Draghi-Irrtum 

Ist es nicht erstaunlich, fast zur gleichen Zeit, wo der zukünftige Präsident der USA unverhohlene Drohungen in Sachen europäische Leistungsbilanzüberschüsse über den Atlantik schickt, haben die europäische Kommission und die wichtigsten nationalen Regierungen in Europa kaum ein anderes Thema als die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Der Bericht von Mario Draghi (hier zu finden) für die EU-Kommission ist der ultimative Beleg für die europäische Obsession in Sachen Wettbewerbsfähigkeit, die auf einem Gipfel im Jahr 2000 in Lissabon ihren Anfang nahm. 

Der Bericht ist allerdings mehr als dünn, er ist ein Spiegel der öffentlichen Debatte. Der Mangel an Wettbewerbsfähigkeit wird im Draghi-Bericht fast ausschließlich anhand von Beispielen bestimmter Industrien diskutiert, von denen man vermutet, sie seien vor allem gegenüber den USA ins Hintertreffen geraten, Digitalisierung allgemein und KI sind natürlich die am häufigsten genannten Stichworte. Doch niemand fragt, welches Ziel man eigentlich erreichen will. 

Trump hat gerade erst wieder darauf hingewiesen, dass die USA trotz all der immer wieder aufgezählten europäischen Rückstände ein sehr hohes Leistungsbilanzdefizit (insgesamt und gegenüber Europa) auf. Er verbindet, und da hat er nicht Unrecht, mit den amerikanischen Defiziten eine Deindustrialisierung zulasten der USA. Folglich ist die Fokussierung der europäischen Diskussion auf Wettbewerbsfähigkeit von vorneherein mehr als fragwürdig. Würde Europa in den immer wieder genannten Bereichen mit oder ohne Hilfe des Staates vorhandene Rückstände aufholen, könnte das doch nur bedeuten, dass die europäischen Überschüsse noch größer würden. Trump würde dann noch härter mit Zöllen oder anderen Maßnahmen reagieren. Dann wären jedoch die ganzen Anstrengungen der Europäer von vorneherein sinnlos gewesen. 

Das alles ist noch weitaus virulenter für das Land, dessen gewaltiger Leistungsbilanzüberschuss von 7 Prozent des BIP maßgeblich den europäischen Überschuss bestimmt. Will man in Deutschland bewusst traditionelle Industriebereiche für die vermeintlich neuen und erfolgversprechenden Bereiche opfern? Der Versuch, in allen Bereichen Weltmarktführer zu werden, kann niemals gelingen. Man muss geradezu froh darüber sein, dass die USA in einigen Sparten der Informationstechnologie führend sind. 

Überschüsse haben nun einmal, anders als die Europäer es sich einreden, keine Berechtigung unter den Regeln der Welthandelsorganisation und bei weitgehendem Freihandel. Wer hohe Überschüsse aufweist und gleichzeitig eine weitere Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit in Angriff nimmt, ist auf der falschen Spur. 

Alle können produktiver werden – aber wie?

Man kann natürlich, auch das klingt gelegentlich in dem Draghi-Report an, der Meinung sein, dass die Europäer – ganz unabhängig von der Frage der Wettbewerbsfähigkeit – produktiver werden sollten und dass sich für eine Strategie der Produktivitätssteigerung die amerikanischen Vorzeigebereiche besonders gut als Vorbild eignen. Das sollte man dann aber auch den Amerikanern klar sagen und deutlich machen, dass man nicht beabsichtigt, die Marktanteile der amerikanischen Unternehmen auf diesem Wege anzugreifen. Man sollte für eine solche Strategie den Begriff „Wettbewerbsfähigkeit“ gerade nicht verwenden. 

Wer aber allgemein die schwache Produktivität in Europa beklagt, muss Draghis Ansatz, mit der Mikroökonomik zu starten, radikal in Frage stellen. Sein Report stützt sich überwiegend auf Fallbeispiele. Damit kommt man aber keinen Schritt weiter. Wenn ein Kontinent makroökonomisch so kläglich versagt wie Europa (wie zuletzt hier gezeigt), ist es kein Wunder, dass die Investitionstätigkeit leidet und damit die Entwicklung der Produktivität. Aus der mangelnden Investitionsdynamik zu schließen, man habe nicht die richtigen Unternehmen oder die richtigen Zukunftsfelder nicht besetzt, ist ein Fehlschluss. Nur wenn Europa eine etwa gleichgute gesamtwirtschaftliche Entwicklung wie die USA aufwiese und dennoch in Sachen Produktivität zurückfiele, könnte man daraus schließen, Europa mache mikroökonomische Fehler.

Sobald der Draghi-Report die makroökonomische Ebene erreicht, macht er allerdings gleich zwei gravierende Fehler. Erstens versucht Draghi, die europäischen Leistungsbilanzüberschüsse mit dem Sparverhalten der Europäer zu erklären. Zweitens führt er die geringe Investitionstätigkeit in Europa vorwiegend auf die Ineffizienz der europäischen Finanzmärkte zurück (S. 280 und 281 der Reports). Beides ist unhaltbar.

Beide Erklärungsversuche sind nicht haltbar. Bei der ersten These, relativ hohe Ersparnis führen zu Leistungsbilanzüberschüssen, handelt es sich, wie hier (hier in Englisch) und in meinem neuen Buch in großer Ausführlichkeit gezeigt, um die Fehlinterpretation einer Identität – allerdings eine häufig anzutreffende. Nur wenn man von der Tatsache ausgeht, dass nationale oder regionale Leistungsbilanzsalden Nullsummenphänomene sind, kann man weiterkommen. Nullsummenphänomene kann man nämlich nur mit Faktoren erklären, die ihrerseits Nullsummenphänomene sind, wie Wechselkursänderungen oder Änderungen der Terms of Trade. Das Sparverhalten der Welt gehört nicht dazu. 

Die zweite These ist mindestens so abwegig wie die erste. Man fragt sich, warum die USA, obwohl doch mit ungeheuer effizienten und tiefen Kapitalmärkten gesegnet, riesige Staatsdefizite brauchen, um die Nachfragelücke zu schließen, die durch die (im Verhältnis zu Europa geringen) Ersparnisse gerissen wird. Darauf muss man eine Antwort geben, wenn man ernst genommen werden will. Nur eine konsequent gesamtwirtschaftliche Analyse auf der Basis der sektoralen Finanzierungssalden kann hier relevante Antworten bringen. Draghi kennt dieses Instrument offenbar nicht.

Wie in Europa, sparen auch die Unternehmen in den USA per Saldo. Das alleine zeigt, dass es nicht um effiziente Finanzintermediation geht (also um die Vermittlung von Krediten an die Unternehmen), sondern um die Frage, wie man die Unternehmen dazu bringt, die Rolle des wichtigsten Schuldners in der Wirtschaft wieder zu übernehmen (wie unter anderem hier gezeigt). Finanzintermediation und extrem niedrige Zinsen haben bei dieser Aufgabe in den vergangenen zwanzig Jahren bereits kläglich versagt. Deswegen musste der amerikanische Staat die Nachfragelücke füllen. Nur er konnte unter den gegebenen Umständen die Wirtschaft am Laufen halten. Für Europa ist diese Diagnose in gleicher Weise zutreffend. Das nicht gesehen oder nicht verstanden zu haben, ist ein Offenbarungseid von Mario Draghi und des gesamten Stabes, der ihm bei der Ausarbeitung des Berichts zur Verfügung gestanden hat.


[1] In der Theorie ungeklärt ist allerdings der China-Fall bzw. die Frage, ob das auch dann gilt, wo zwar nicht das ganze Land, aber viele Unternehmen im Land Vorteile haben, weil sie hohe Technologie mit niedrigen Löhnen verbinden. Ich habe das hier und in meinem neuen Buchim Detail besprochen.