Inflation und „verankerte“ Inflationserwartungen: Warum die herrschende Lehre auch hier fundamental irrt

Einige Leser haben nachgefragt, ob und warum die herrschende Lehre überhaupt die „verankerten“ Inflationserwartungen braucht, die ich in meinem letzten Stück kritisiert hatte. Das ist in der Tat eine interessante Frage. Die Antwort ist eindeutig: Ja, sie braucht sie! Die Erklärung dauert allerdings ein wenig länger.

Nehmen wir an, es existierte eine Welt, in der es nur eine Volkswirtschaft mit einer Währung gibt. Nehmen wir weiter an, es gebe für diese Volkswirtschaft nur eine zentrale Lohnverhandlung, wo alle Lohnzuwächse entsprechend des durchschnittlichen Zuwachses der Leistung der gesamten Volkswirtschaft (des Zuwachses der Arbeitsproduktivität) festgelegt werden. In dieser extrem einfachen Welt will die Wirtschaftspolitik dafür sorgen, dass die Tarifpartner eine Orientierung hinsichtlich der voraussichtlichen Inflationsentwicklung bekommen. 

Die Regierung hält das für sinnvoll, weil sie daran glaubt, dass eine niedrige Inflationsrate, also ein hohes Maß an Geldwertstabilität, dazu beiträgt, die eigentlichen Ziele der Wirtschaftspolitik, nämlich eine gute wirtschaftliche Entwicklung und eine ausreichende Zahl an Jobs, zu erreichen. Schwankt der Wert des Geldes stark, lassen sich insbesondere langlaufende Investitionen schlechter planen, weil die Investoren sich einer größeren Unsicherheit bezüglich des zu leistenden Realzinses auf ihre Kredite gegenübersehen. Bei einem langlaufenden Kredit zu festen Nominalzinsen (den man vermutlich nur bei relativ stabilen Inflationsraten bekommt) kann die Belastung des Investors sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wie sich während der Investitionsperiode seine Absatzpreise entwickeln. Die wiederum sind nicht unabhängig von der Preisentwicklung in der Volkswirtschaft insgesamt, die erheblich von den Ergebnissen der Lohnverhandlungen abhängt.

Auch für die Tarifpartner ist es sinnvoll, eine solche Orientierung zu haben, weil sie sich prinzipiell auf jede beliebige Inflationsrate einigen könnten. Einigen sie sich auf eine Zuwachsrate des Preisniveaus von zehn Prozent jährlich, werden sie das schließlich auch erreichen, weil die Löhne nun einmal die entscheidende Kostenkomponente für die Volkswirtschaft sind und die Unternehmen in der Regel in der Lage sind, die Preise genau um die Marge zu erhöhen, um die die Lohnzuwächse oberhalb der Produktivität liegen. Folglich können sich die Tarifpartner ebenso gut auf zwei wie auf zehn Prozent einigen. 

Die herrschende neoklassische Lehre hat erkennen müssen, dass das allgemeine Marktgleichgewicht, mit dem sie üblicherweise operiert, keinerlei Lösung für die Geldwertstabilität enthält. Die von ihr vertretene sogenannte Dichotomie, also die Einteilung der Wirtschaft in zwei annahmegemäß voneinander unabhängige Bereiche, den realen und den monetären, gehörte stets zur unabdingbaren Basis ihrer Theorie. Das drückt sich in der Lehrbuchweisheit aus, Geld sei nur ein „Zählgut“ (ein numéraire), das ermögliche, aus den eigentlich relevanten Relativpreisen absolute Preise zu errechnen, mit denen man besser umgehen könne.

Da die neoklassische Lehre nichts Relevantes zur Dynamik einer Marktwirtschaft zu sagen hat – sie verlagert dieses Thema in den Bereich der exogenen Annahmen wie etwa einen gegebenen technischen Fortschritt oder eine gegebene private Sparquote –, hat sie auch keinen in ihr Modell integrierten Mechanismus, wie sich die Preise im Zeitablauf entwickeln, sprich: Sie hat keine Inflationstheorie. Auch wenn es die von der herrschenden Lehre unterstellten perfekten Märkte gäbe, könnte man daher nicht vorhersagen, ob das Gesamtergebnis der Preisbildung auf allen Märkten zusammen zehn oder zwei Prozent Inflation erbringt. 

Wie immer, wenn die neoklassische Lehre keine „Lösung“ bietet, hat man sich darauf kapriziert, eine „Lösung“ zu finden, die dem Staat möglichst wenig Möglichkeiten zur Intervention bietet. Nachdem sich die „goldene Lösung“ dieses Problems (eine von der Natur vorgegebene und nicht beliebig vermehrbare Menge an Gold) nicht mehr halten ließ, verfiel man auf die „Geldmengenlösung“. 

Der Staat, vertreten durch eine von der Politik unabhängige Zentralbank, würde rein technokratisch und „objektiv“ eine Geldmenge definieren, die dafür sorgte, dass die Inflation einen bestimmten Wert nicht überschreiten könnte. Man basierte diese „Theorie“ auf die sogenannte Quantitätsgleichung. Diese Gleichung wird immer noch von vielen Ökonomen wie Professor Sinn[1] fälschlicherweise „Quantitätstheorie“ genannt, obwohl sie in keiner Weise eine Theorie ist und letztlich nur besagt, dass alles, was in einer Geldwirtschaft finanziert werden muss, durch Geld finanziert wird. Wer hätte das gedacht?

Ich will die Gründe für den Untergang des Monetarismus nicht wiederholen; ich habe das schon oft dargelegt (vgl. dazu beispielsweise die Artikelserie von mir und Friederike Spiecker zu Geld und Geldpolitik, die hier zu finden ist). Aber nachdem die Fiktion von einer von der Notenbank vorgegebenen Geldmenge endlich verschwunden war, musste die herrschende Lehre das entstandene Vakuum füllen. So wurden die „Inflationserwartungen“ und ihre „Verankerung“ erfunden. Da die Notenbank auf irgendeine Weise (und sei es über hohe Zinsen) die Inflation in den Griff bekommen wird, so wurde argumentiert, sollte sie, um sich die eigene Arbeit zu erleichtern, allen Beteiligten am Wirtschaftsleben explizit klar machen, dass sie eine bestimmte Inflationsrate anstrebt. 

Die reale Welt ist viel komplizierter

Dummerweise, aber wie fast immer, wenn man sich mit der herrschenden Ökonomik auseinandersetzt, muss man einräumen, dass die reale Welt viel komplizierter ist, als es die Neoklassik unterstellt. In der realen Welt gibt es viele unterschiedliche Länder und viele unterschiedliche Tarifverhandlungssysteme. Es gibt vor allem kein Währungssystem, das dafür sorgen würde, dass die Inflationsraten zwischen den Ländern konsequent und schnell durch entsprechende Wechselkursbewegungen ausgeglichen werden. 

In einer solchen „unvollkommenen“ Welt interessiert sich zum Beispiel ein Unternehmer, der mit einer kleinen Branchengewerkschaft verhandelt, überhaupt nicht für die Inflationsvorgabe der Zentralbank. Er schaut nur auf die Preise in seiner Branche und die mögen völlig anders laufen als die auf der Ebene der Gesamtwirtschaft. Da lässt sich schon einmal nichts verankern, sondern die Tarifpartner werden hauptsächlich auf die Branchenpreise und auf die Branchenproduktivität schauen, obwohl für die Arbeitnehmer natürlich die gesamtwirtschaftliche Inflationsrate viel wichtiger ist als für den Unternehmer. 

Je kleinteiliger die Unternehmen verhandeln, umso unbedeutender ist die gesamtwirtschaftliche Inflationsrate. Umso mehr macht sich auch eine Asymmetrie im System bemerkbar, die von der Neoklassik vollkommen ignoriert wird. Unternehmen, die sich im internationalen Wettbewerb befinden, tendieren dazu, nicht allein die Preisentwicklungen auf ihrem nationalen Absatzmarkt, bei ihren Vorleistungsgütern und ihren eigenen Lohnstückkosten zu betrachten. Sie stellen vielmehr die Frage, wie viel interne Kostensteigerung sie in Preiserhöhungen auf ihrem internationalen Markt weitergeben können bzw. wie sie ihren internationalen Marktanteil halten oder sogar ausbauen können. Und das hängt wesentlich davon ab, wie stark die nationalen Preise steigen, weil das darüber entscheidet, ob sie gegenüber der internationalen Konkurrenz einen Preisvorsprung haben oder nicht. 

Wenn die Unternehmen nicht damit rechnen (müssen), dass eine Aufwertung der eigenen Währung sofort jeden Wettbewerbsvorsprung, den man durch weniger steigende Löhne gegenüber den internationalen Konkurrenten erzielen kann, zunichte macht, tendieren sie immer dazu, die Löhne unter das Niveau zu drücken, das für eine stabile Inflationsrate notwendig wäre. Besonders eklatant tritt dieses Problem innerhalb einer Währungsunion auf, wo es die Sanktion „Aufwertung“ nicht mehr oder zumindest nicht mehr im gleichen Umfang gibt wie bei einer nationalen Währung. Hier haben die Unternehmen einen gewaltigen Anreiz, immer nach unten zu drücken, vollkommen unabhängig davon, was die Zentralbank zu verankern versucht. 

Darüber hätte man zu Beginn der EWU intensiv nachdenken sollen statt über Verankerung von Inflationszielen, die kaum jemanden außerhalb enger akademischer Zirkel interessiert. Weil die gesamte EWU inklusive der EZB auf der Ebene der nationalen Verhandlungen Abweichungen der Lohnzuwächse nach unten ignorierte, konnte Deutschland seine reale Abwertung durchsetzen und damit einen Keil in die Währungsunion treiben, der ihren Bestand bis heute bedroht.

Ebenso wenig helfen die bloßen Ankündigungen der Zentralbank, wenn es darum geht, dass die Inflationsrate, wie derzeit zu beobachten, deutlich vom Ziel der Zentralbank nach oben abweicht. Für Gewerkschaften, die ausreichend große Verhandlungsmacht haben, können solche Inflationsschübe die „Verankerung“ ohne weiteres lösen, weil sie nicht mehr glauben, dass die Zentralbank ihr Ziel realisieren kann. Fehlt bei den Gewerkschaften die notwendige Einsicht in die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge, werden sie womöglich solche Preisschübe nicht hinnehmen, was auch immer die Zentralbank in der Vergangenheit als „Anker“ angeboten hat. Das ist der Grund, warum die geldpolitischen Falken jetzt eine präventive Zinserhöhung als notwendig ansehen.

Das Ausbalancieren der unternehmerischen Neigung, die Löhne zu drücken und der natürlichen Neigung der Gewerkschaften, die Löhne zu erhöhen, gelingt nicht durch einseitige Kommunikation der Zentralbank, sondern nur durch eine geeignete Wirtschaftspolitik und die Bereitschaft der Politik im Allgemeinen, in der Auseinandersetzung der Tarifparteien Partei für die gesamtwirtschaftliche Vernunft zu ergreifen. 

Nach den 1970er Jahren ist es allerdings in den westlichen Industrieländern nicht mehr gelungen, eine vernünftige Balance zu finden. Vielmehr ist es in den meisten Ländern zu hoher Arbeitslosigkeit gekommen, die von vielen Ökonomen als willkommene Bremse für gewerkschaftliche Lohnforderungen angesehen wurde. Doch das ist die Kapitulation vor der eigentlichen Aufgabe und bringt hohe Verluste bei der Entwicklung des Lebensstandards mit sich. Hohe Arbeitslosigkeit ist nicht nur für die unmittelbar Betroffenen eine enorme Bürde, sondern spaltet die Gesellschaft und hemmt wegen des dauernden Drucks auf die Löhne die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt. 

Deswegen geht es bei der Frage, ob und wie man Erwartungen stabilisiert, um viel mehr als nur die Stabilisierung der Inflationserwartungen. Gute Wirtschaftspolitik stabilisiert die Einkommenserwartungen der Masse der Bevölkerung unddas Preisniveau zugleich. Wenn es mit politischer Unterstützung (ob explizit einschließlich der Zentralbank oder ohne sie, ist nicht weiter bedeutsam) gelingt, in den Lohnverhandlungen – auf welcher Ebene auch immer – eine vernünftige Inflationsrate und den zu erwartenden allgemeinen gesamtgesellschaftlichen Produktivitätsfortschritt unterzubringen, sind die Weichen richtig gestellt und müssen nicht dauernd nachkorrigiert werden.

Temporäre Preiseffekte aufgrund äußerer Einflüsse, wie wir sie derzeit erleben, müssen dann von beiden Tarifpartnern ignoriert werden, weil niemand sie auf Kosten des anderen ausgleichen kann, ohne erneute schwerwiegende Verwerfungen zu erzeugen.

Was ist mit Greenflation?

Das gilt prinzipiell auch für solche Preiseffekte, die vom Staat selbst oder von der internationalen Staatengemeinschaft ausgelöst werden. Würde es beispielsweise gelingen, die fossilen Rohstoffe so zu verknappen, dass überall auf der Welt die Preise dieser Stoffe jedes Jahr um 10 Prozent steigen und das die Inflationsrate fast überall um 0,2 oder 0,5 Prozentpunkte erhöht, müsste das in den Lohnverhandlungen genauso behandelt werden wie jeder andere von außen kommende Preiseffekt. 

Was heißt, dass diese Preissteigerung hingenommen und nicht zu der normalen Zielrate der Zentralbank beim anzustrebenden Lohnstückkostenzuwachs hinzugerechnet wird. Jeder kann die Belastung durch diese Preiserhöhung, und das ist ja der Sinn dieser Maßnahme, dadurch verringern, dass er sein Verbrauchsverhalten anpasst, also weniger fossile Rohstoffe verbraucht. Nach einiger Zeit wäre der Warenkorb vieler Verbraucher so angepasst, dass die Gesamtrechnung für Öl oder Gas nicht höher ausfiele als vor Beginn der Preissteigerungen, weil mengenmäßig weniger verbraucht wird. 

Dass der Staat gleichzeitig durch direkte Hilfen und/oder allgemeine Steuersenkung die unteren Einkommen entlastet, ist dabei mitgedacht und vollkommen unproblematisch. Das ist gerechtfertigt, weil der Effekt der vom Staat verursachten Preiserhöhung bei einem geringen Einkommen viel stärker zu Buche schlägt, denn der Anteil der Öl- Gas- und Stromrechnung an den gesamten Ausgaben eines armen Haushalts ist viel höher als bei einem reichen. Die Entlastung muss auch unabhängig davon gewährleistet sein, ob der Staat wegen der Preiserhöhung selbst höhere Einnahmen verbucht oder ob die Produzenten der Rohstoffe für eine Weile besonders profitieren, wie das derzeit der Fall ist. 

Die Rückverteilung einer an den CO2-Ausstoß gekoppelten Klimaabgabe an die Bevölkerung pro Kopf ist jedenfalls eine Möglichkeit, dem privaten Sektor insgesamt nicht zusätzlich Einkommen zu entziehen und trotzdem die Relativpreisverschiebung zur Lenkung des Produktions- und Verbrauchsverhaltens zu nutzen. Je besser die Lenkung auf Dauer funktioniert, desto geringer fällt das Umverteilungsvolumen aus. 


[1] Siehe die Seite 224 seines neuen Buches mit dem Titel „Die wundersame Geldvermehrung“, die mir ein Leser dankenswerterweise zugeschickt hat. Aber selbst Sinn relativiert im weiteren Verlauf des Abschnitts die „Theorie“ in vieler Hinsicht.