Wir hatten keine Wahl – und brauchen ein neues Wahlrecht

Die deutsche Demokratie hat einen Kolbenfresser. Was von den Wählern gestern „entschieden“ wurde, bietet keine Grundlage für vernünftige und zukunftsgerichtete Politik. Wenn die Grünen ihr Programm ernst nehmen, können sie niemals mit CDU und FDP koalieren, und wenn die Liberalen ihr Programm ernst nehmen, brauchen sie erst gar nicht mit SPD und Grünen zu verhandeln. Dreierkoalitionen mit jeweils einem Partner, der das eigentlich gar nicht will, richten Schaden an, weil sie auf Kompromiss um jeden Preis getrimmt sind und nicht auf sachlich angemessenes politisches Handeln. 

Der einzige „Ausweg“ wäre die Fortsetzung der großen Koalition, diesmal unter Führung der SPD. Aber dann müsste das gesamte Führungspersonal der CDU zurücktreten, was angesichts der Tatsache, dass nach dieser grandiosen Niederlage noch niemand in dieser Partei zurückgetreten ist, doch eher unwahrscheinlich erscheint.

Bei den letzten Koalitionsverhandlungen sowohl zwischen CDU, FDP und Grünen (dem berühmten, auf Bundesebene ersten und schließlich gescheiterten Versuch in Sachen Jamaika) als auch bei den Verhandlungen zur Großen Koalition im Jahr 2017 waren alle stolz darauf, sich schon in der ersten Stunde reibungslos auf die Formel geeinigt zu haben, dass die Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz Bestand habe und „solide“ Staatsfinanzen für Deutschland und Europa die conditio sine qua non für erfolgreiche Politik seien. Damals konnte man auf „weiter so“ setzen, also die Fortsetzung der Finanzpolitik ohne neue öffentliche Schulden, die durch den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss möglich geworden war.

Dieses Mal wird die erste Stunde schon ein bitterer Schlagabtausch. Nach Corona sind die öffentlichen Schulden in Deutschland und ganz Europa aus Sicht von CDU und FDP (und Olaf Scholz) untragbar hoch und müssen dringend heruntergefahren werden. Die Grünen, nimmt man ihren Frontmann Robert Habeck zum Maßstab, haben verstanden, dass das fundamental falsch ist. Das schon müsste Koalitionsverhandlungen mit beiden Seiten unglaublich erschweren, denn hier entscheidet sich, ob Europa in den nächsten Jahren eine Chance hat, seine Arbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren und damit zu zeigen, dass es wirtschaftspolitisch überhaupt handlungsfähig ist. Auch die soziale Agenda, die eine effektive Klimapolitik unbedingt braucht (wie in meinem letzten Buch gezeigt), ist weder mit der CDU und der FDP noch mit der Scholz-SPD (die ja immer noch auf dem Erfolg ihrer Agenda-Politik beharrt) zu machen.

Keine Klimaregierung

Ist die Mehrheit der Grünen in dieser Frage offen, kann sie beide Koalitionen eingehen. Die „Klimaregierung“, von der Annalena Baerbock träumt, wird das aber mit Sicherheit nicht werden. Die CDU in Kombination mit der FDP, genauso wie Olaf Scholz in Kombination mit der FDP stehen für „weiter so“, also die Fortsetzung einer Politik, die in Sachen Klima weitgehend Symbolpolitik betreibt und in sozialen Fragen keinerlei Fortschritt erwarten lässt. In jedem Fall wird die Regierungsbeteiligung der Grünen auf Bundesebene, von der sie derzeit noch träumen, eine bittere Angelegenheit. Robert Habeck täuscht sich gewaltig, wenn er glaubt, erfolgreiche Koalitionen auf Landesebene könnten ein Modell für eine erfolgreiche Dreierkoalition im Bund sein. 

In der Außen- und Sicherheitspolitik mögen die Grünen kompatibel mit den bürgerlichen Parteien inklusive der Scholz-SPD sein. In der Europäischen Währungsunion und in Europa generell, wo Deutschland seit vielen Jahren die Rolle des Lehrmeisters übernommen hat, allerdings ohne selbst zu verstehen, worauf es in einer Währungsunion ankommt, kommt man mit „weiter so“ keinen Schritt voran. Und Vorankommen ist essenziell. Wirtschaftlicher Stillstand und sozialer Rückschritt bedrohen das europäische Einigungswerk und bergen sogar die Gefahr eines ganz großen Konflikts. Man bedenke, dass Angela Merkel diesen ganz großen Konflikt erst im vergangenen Jahr mit hunderten von Milliarden an neuen staatlichen Ausgaben verhindert hat (siehe dazu meinen Beitrag „500 Milliarden für eine neue Tapete“ vom 21. Mai 2020) und bis heute niemand weiß, wie es ausgegangen wäre, hätte sie und die SPD unter Scholz nicht in letzter Sekunde die Kurve gekriegt.

Die Wirtschaftsparteien und die Grünen

Der einfache Punkt ist: Die CDU sowieso und die FDP ganz besonders sind Wirtschaftsparteien, bei denen das kurzfristige Wirtschaftsinteresse immer über allem steht. Natürlich wird das verkleidet mit Floskeln wie Ordnungspolitik, Steuersenkung für die Mittelschicht, Innovationsförderung oder Bürokratieabbau. Im Kern geht es aber um Interessenvertretung für die Wirtschaft. Volkswirtschaftliche Zusammenhänge, deren Kenntnis unabdingbar ist, um überhaupt eine vernünftige Wirtschaftspolitik machen zu können (und den für die Klimafrage unabdingbaren Strukturwandel managen zu können), werden schlicht ignoriert. 

Die Scholz-SPD kann da ohne weiteres mitmachen, weil sie sich nach Schröder zu einer halben Wirtschaftspartei gewandelt hat und konsequenterweise in ihrem Stimmenanteil auch nahezu halbiert wurde. Die naheliegendste Lösung wäre daher die Deutschlandkoalition aus CDU, SPD und FDP. Die wird es nur deswegen nicht geben, weil die alte große Koalition ja schon eine Mehrheit hätte und die FDP nicht gebraucht würde. Die große Koalition wird aber immer im Hintergrund stehen und als strategische Drohung für den Fall genommen werden, dass die Grünen sich einer neoliberalen Wirtschaftspolitik verweigern. 

Instabilität ist vorprogrammiert

Für die Grünen heißt das, dass sie nur bei konsequenter Missachtung ihrer eigenen Ziele und ihrer neu gewonnenen Einsichten in volkswirtschaftliche Zusammenhänge mit den Wirtschaftsparteien koalieren können. Bei Jamaika (Schwarz-Grün-Gelb) ist das offensichtlich, aber auch bei der Ampel-Koalition können die Grünen nur darauf hoffen, den linken Flügel der SPD so zu stärken, dass der Scholz-Flügel zusammen mit der FDP daran gehindert wird, neoliberale Politik zu machen. Ob sich eine solche Hoffnung erfüllt, ist mehr als fraglich, weil sich Olaf Scholz durch das Wahlergebnis erheblich gestärkt sieht.

Für die FDP ist es gerade andersherum. Sie steht bei der Ampel nur dann gut da, wenn die Scholz-SPD den Ton angibt. Sobald hinter der Scholz-SPD jedoch eine wirkliche Sozialdemokratie auftaucht und mitreden will, wird es für die FDP in der Ampel ungemütlich, denn dann stünde sie gegen die Grünen und die SPD. Deswegen ist es auch klar, dass die FDP Jamaika der Ampel vorzieht, selbst wenn sie sich zunächst auf Ampel-Gespräche einlässt. Dass die CDU nun sogar der SPD den ersten Versuch in Sachen Ampel zugesteht, ist sehr geschickt. Wenn dieser Versuch „zufällig“ an der Haltung der FDP scheitert, ist der Weg für Jamaika viel naheliegender, weil eine Option weg ist und mit der Zeit einfach der Druck wächst, irgendeine Regierung zu bilden. 

Wie dem auch immer sei, die Dreierkoalition bedeutet Instabilität, weil sie immer einen der drei Partner dazu zwingt, Kompromisse zu machen, die dessen Basis sauer aufstoßen werden. Wer sich inhaltlich nicht einig ist, sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner – und der ist oft sehr klein. Besonders FDP und Grüne müssen fürchten, als Minderheitspartei in der Jamaika- oder Ampelkonstellation schweren Schaden zu nehmen, weil sie an Glaubwürdigkeit verlieren. 

So kann Demokratie auf Dauer nicht funktionieren

Bleiben die politischen Verhältnisse in Deutschland über einige Jahre so, wie sie jetzt sind, stellt sich diese Form der Demokratie selbst in Frage. Wahlen bringen dann unter keinen Umständen einen Aufbruch, eine neue Politik oder einen Richtungswechsel. Politik besteht dann vornehmlich darin, Kompromisse zu verkaufen, die niemanden glücklich machen und weit hinter dem zurückbleiben, was inhaltlich geboten wäre. Statt klarer Auseinandersetzung und Streit wird die Politik in dieser Art von Viel-Parteien-Demokratie immer mehr zu einem dicken Brei, in dem nur noch wenige herumrühren mögen, weil jeder weiß, dass daraus nichts werden kann, was Menschen begeistert und Lösungen verspricht.  

Es ist in Deutschland ein Tabu und muss doch auf den Tisch: das Wahlrecht. Die deutsche Mischung aus Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht hat funktioniert, solange es zwei große Blöcke gab, die sich sowohl bei den Mehrheitsentscheidungen in den Wahlkreisen als auch bei der Verhältnisentscheidung auf Bundesebene die Waage hielten. Diese Zeiten sind vorbei. Mit sechs oder sieben Parteien, bei denen drei oder gar vier ähnlich hohe Stimmanteile haben, wird nicht nur der Bundestag immer größer, viel wichtiger ist, dass, wie wir jetzt wieder erleben werden, Regierungsbildung zu einem Teppichhandel wird, der sich über Monate hinzieht, wichtige Zeit der knappen vier Jahre verstreichen lässt und schließlich in einen Kompromiss mündet, in dem sich niemand mehr wiederfindet. 

Ohne Zweifel hat auch das Mehrheitswahlrecht große Schwächen, aber ab einem bestimmten Punkt schlägt das Pendel dennoch zu seinen Gunsten um. Ob der Punkt jetzt schon erreicht ist, vermag niemand zu sagen. Vier Jahre einer Dreierkoalition werden aber jedem zeigen, wie teuer der Kompromiss um jeden Preis ist. Schon die große Koalition bedeutete großen Stillstand und die Abwesenheit jeder neuen Idee oder Initiative. Reagieren statt agieren war Angela Merkels Credo über 16 lange Jahre. Das wird jetzt noch schlimmer. Ganz gleich, ob Scholz oder Laschet das Rennen um die Kanzlerschaft machen, beide sind gefangen in einem System, das Politik zur bloßen Verwaltung degradiert.