Krise der Entwicklungspolitik mit „Entwicklungspolitik gegen Krisen“ überwinden

Dieser Artikel ist heute in der Berliner Zeitung erschienen

Die Bundesregierung geht ungewohnt oft auf weite Reisen. Der Kanzler war in drei Ländern in Afrika im vergangenen Mai, der Kanzler besuchte drei wichtige Länder in Südamerika vor einigen Wochen und Finanzminister Lindner war vor kurzem in Afrika. Liegt das nur daran, dass die Regierungsmitglieder endlich ein neues und verlässliches Flugzeug besitzen, mit dem sie nicht auf jeder zweiten Reise irgendwo stranden?

Offenbar geht es um mehr. Der Kanzler und seine Minister wollen neue Freunde gewinnen, um für die die Auseinandersetzungen gewappnet zu sein, die wegen der „Rivalität“ mit China und Russland auf der westlichen Agenda stehen. Doch wer neue Freunde gewinnen will, sollte wissen, warum es mit der Freundschaft bisher nicht so weit her war. Ich frage mich, ob die Beamten im Kanzleramt ihrem Chef aufgeschrieben haben, warum die Entwicklungszusammenarbeit mit den großen und wichtigen Ländern, die er besucht hat, bislang nicht einmal im Ansatz die gewünschten Ergebnisse zeitigt.

Hätten die Beamten ihre Arbeit korrekt erledigt, müssten mindestens bei den drei großen Ländern, um die es geht, nämlich bei Brasilien, Südafrika und Argentinien die Jahre 1999, 2003, 2008, 2016 und 2022 besonders hervorgehoben sein. Das waren nämlich die Jahre in den vergangenen beiden Jahrzehnten, in denen diese Länder veritable Krisen durchzumachen hatten. Und nicht nur irgendwelche Krisen, sondern solche, deren Ursprung klar im Westen zu verorten ist. Also alle fünf Jahre etwa war in diesen Ländern auch ohne Corona und Rohstoffpreisexplosionen wirtschaftlich die Hölle los. Was war geschehen?

Nun, der Westen in all seiner Großzügigkeit hat diesen Ländern nicht nur offenen Märkte für Güter und Dienstleistungen zugesagt, sondern er hat sie auch gedrängt, ihre Märkte für das weltweit flottierende Kapital zu öffnen, weil man, so die westliche Verheißung, nur auf diese Weise die Vorteile offener Grenzen wirklich genießen könne. Das aber war ein vergiftetes Geschenk, weil flottierendes Kapital bei unklaren Währungsverhältnissen dazu neigt, falsche Preise und große Krisen nach sich zu ziehen.

Alle diese Länder und dazu noch viele in Asien sind Anfang der neunziger Jahre vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der maßgeblich von den USA und Europa gelenkt wird, zu Währungsordnungen gedrängt worden, die sich als völlig ungeeignet erwiesen. Man hat den Ländern empfohlen, ihre nationalen Währungen entweder ganz fest an eine westliche Währung zu koppeln oder die Festlegung der Wechselkurse vollständig flexibel dem Markt zu überlassen. Beides hat sich als falsch erwiesen. In beiden Fällen sind die Währungen dieser Länder alle paar Jahre zum Spielball von Spekulanten geworden, deren Heimat die Wall Street, die City of London oder Frankfurt sind. 

Die diversen Regierungen dieser Länder sahen sich Währungskrisen gegenüber, deren soziale und politische Verwerfungen ungeheuerlich waren und das Funktionieren der Demokratien in Frage stellten. Doch statt wenigstens während der Krisen den Ländern beizustehen, wurde auch zur Krisenbekämpfung vom Westen ausschließlich der IWF in Marsch gesetzt, der regelmäßig Austerität und hohe Zinsen verschrieb, was die Krisen nur noch schlimmer machte. Eines der schlimmsten Beispiele war der Corona-Schock, wo die westlichen Regierungen sich gegenseitig übertrafen in ihrem Geprahle von den finanziellen Potenzialen, mit denen man der Pandemie entgegentreten würde, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, wie ein Entwicklungsland damit zurechtkommen könnte. Eine Bundesregierung, die neue Freunde gewinnen will, müsste wenigstens zeigen, dass sie die Nöte der potenziellen Freunde versteht. Sie müsste aber auch eigene Fehler einräumen, um glaubwürdig zu sein. 

Man mag einwenden, das sei eine einseitige Sichtweise auf die Dinge. Aber man muss dennoch zur Kenntnis nehmen, dass es mittlerweile die sehr einhellige Sichtweise der Betroffenen ist. Warum wohl flog der brasilianische Präsident entgegen allen Gewohnheiten bei seiner ersten Reise nach Argentinien? Und warum diskutieren Argentinien und Brasilien und viele andere lateinamerikanischen Länder allen Ernstes, wie sie sich vom US-Dollar und der sklavischen Abhängigkeit von den USA und vom IWF lösen können? Warum hoffen so viele Politiker der sich entwickelnden Welt darauf, dass sich mit China und Indien endlich die großen Entwicklungsländer dazu aufraffen, eine Alternative zum Washington Consensus und dem Neoliberalismus des IWF zu schaffen? Wer allerdings keine Antworten auf die wirklich drängenden Fragen dieser Länder hat, braucht gar nicht erst um die Welt zu fliegen.

Man muss sich nur die Afrikastrategie anschauen, die vor einigen Tagen von der Entwicklungshilfeministerin zur Zusammenarbeit mit Afrika vorgelegt worden ist, um zu sehen, wie weit jenseits der wirklichen Nöte der Entwicklungsländer Deutschland und die Industrieländer insgesamt agieren und taktieren. In der Strategie taucht der Begriff „feministisch“ zwar 15-mal auf, bei den Begriffen „Zins“ und „Währung“ ist aber Fehlanzeige. Es gibt in diesem Papier, das beansprucht, mit Afrika gemeinsam globale Veränderungsprozesse gestalten zu wollen, noch nicht einen Hinweis auf die jahrzehntelangen frustrierenden Erfahrungen Afrikas mit den Washingtoner Institutionen, von Besserungsvorschlägen ganz zu schweigen. Glaubt ernsthaft jemand in dieser Bundesregierung, man könne makroökonomisch den widersinnigen Kurs dieser Institutionen weiterfahren und gleichzeitig mit kleinen Pflästerchen die Länder davon abhalten, sich nach anderen Freunden umzusehen? 

Viel zu hohe Zinsniveaus und volatile Währungen, die immer wieder zu Überbewertungen und schweren Zahlungsbilanzkrisen führen, sind in Afrika an der Tagesordnung. Es gibt kein einziges Land, dem man geholfen hätte, sich dauerhaft aus der Abhängigkeit von den internationalen Kapitalmärkten zu befreien. Es gibt Fälle in Afrika, wo unter Anleitung des Westens Geld- und Banksysteme aufgebaut wurden, die zu nichts führten als einer Blockade jeder wirtschaftlichen Entwicklung durch prohibitiv hohe Zinsniveaus. Selbst die im Westen hochgelobten Mikrokredite wurden in der Regel nur mit extrem hohen Zinsforderungen vergeben. 

Die Europäische Union hatte in der Vergangenheit viele Gelegenheiten, um zu zeigen, dass sie bereit ist, auch unkonventionelle Wege zu gehen, wenn Länder sich von diktatorischen Regimes lösen und die Abhängigkeit von westlichen Geldgebern wie dem IWF verringern wollen. Der sogenannte arabische Frühling war das herausragende Beispiel. Doch man hat Ägypten lieber wieder in die Diktatur zurückfallen lassen, weil man sich ansonsten mit den amerikanischen Freunden hätte anlegen müssen. Die USA halten, Demokratie hin, Demokratie her, an der Diktatur des „Washington Consensus“ fest, weil er ihre eigene Vormachtstellung festigt.

Man sieht, Freunde zu gewinnen ist gar nicht so einfach. Es ist vor allem dann nicht einfach, wenn man sich partout nicht von den alten Freunden distanzieren will, die von den neuen Freunden mit mehr als Argwohn betrachtet werden. Europa könnte vieles tun, aber es geht nicht ohne Mut. Mutlose Kleinigkeiten aber kann man sich sparen. Ein paar Millionen hier, ein paar Millionen da bringen schöne Fotos für die heimische Presse, haben aber mit dem, um was es wirklich geht, nichts zu tun. 

Niemand muss mehr als Deutschland fürchten, dass die Globalisierung gebremst und die Welt erneut in Blöcke eingeteilt wird. Wer so stark exportorientiert ist und gewaltige Leistungsbilanzüberschüsse aufweist, ist weit abhängiger als etwa die USA, die mit dem Inflation Reduction Act gerade ihre chronischen Leistungsbilanzdefizite (auch gegenüber Deutschland) verringern wollen. Man kann sich hierzulande nicht darauf verlassen, dass es wieder einmal genügt, den USA blind zu folgen. Die haben, unabhängig davon, wer gerade im Weißen Haus sitzt, eine völlig andere Interessenlage. Eine globale Strategie, um die wirtschaftlichen Bedingungen für die große Masse der Menschheit zu verbessern, liegt viel mehr im deutschen und im europäischen Interesse als im Interesse der USA, die vor allem um ihre globale Vormachtstellung fürchten.

Erfolgreiche Entwicklungsstrategien liegen auch deswegen im globalen Interesse, weil ohne wirtschaftliches Aufholen der ärmeren Länder ein Konsens beim Kampf gegen den Klimawandel nicht zu erreichen ist. Es ist höchste Zeit, die Entwicklungspolitik wenigstens in Europa in ein Gesamtkonzept der Wirtschafts- und Klimapolitik einzubinden. Mit Kurztrips und dünnen Papieren ist es nicht getan. Vorurteilsfreies Denken ist gefragt und die Auseinandersetzung mit den eigenen schwerwiegenden Fehlern in der Vergangenheit. Leider wissen wir, dass man von Politkern vieles erwarten kann, das genau aber nicht.  

Heiner Flassbeck war neun Jahre lang Direktor der Abteilung Globalisierung und Entwicklungsstrategien und Chefvolkswirt der UNCTAD, der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung in Genf. Mit Friederike Spiecker und Constantin Heidegger hat er gerade den Atlas der Weltwirtschaft 2022/2023 im Westend-Verlag veröffentlicht.