(dieser Artikel erscheint heute auch im Overton-Magazin)
Katherina Reiche, die Bundesministerin für Wirtschaft, ich habe schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, hat den Sozialdemokraten in der Regierung den Kampf angesagt, indem sie sich eine Beratergruppe zusammengestellt hat, die man als die Speerspitze des Libertarismus in Deutschland ansehen kann.
Nun hat diese Gruppe (Veronika Grimm, Justus Haucap, Stefan Kolev, Volker Wieland) eine erste Stellungnahmevorgelegt, die – wie könnte es anders sein – zeigt, wes Geistes Kinder sie sind. Man muss das lange Papier nicht lesen. Es genügt absolut, die ersten fünf Seiten anzusehen, um zu erkennen, dass es hier nicht um Wissenschaft, sondern um blanke Manipulation geht.
Das Papier beginnt mit einem eindrucksvollen Schaubild. Die Wirtschaftsleistung seit 2019 zeigt unmissverständlich, dass Deutschland zurückgefallen ist. Selbst Frankreich und Italien sind besser. Hervorgehoben wird von den Gutachtern aber insbesondere die erstaunliche Perfomance der USA. In den vergangenen 25 Jahren, so die Feststellung, sei die amerikanische Wirtschaft doppelt so stark gewachsen wie die deutsche (Abbildung 1). Auch in Bezug auf die Investitionstätigkeit, so wird es wenig später festgestellt, ist die amerikanische Wirtschaft der deutschen haushoch überlegen.
Abbildung 1

Zu den Ursachen und den wirtschaftspolitischen Bedingungen des amerikanischen Booms schweigt das Gremium allerdings. Unmittelbar nach dem ersten Schaubild mit den USA schwenkt man nämlich um auf erfolgreiche europäische Volkswirtschaften, um festzustellen, dass die Niederlande, die Schweiz und Dänemark eine bessere Wachstumsausbeute als Deutschland haben, obwohl dort, so das Urteil der vier Berater, die Staatsverschuldung (in Relation zum BIP) abgenommen habe. Die Quote von Staatsschulden zu Wirtschaftsleistung sei deutlich niedriger, „mit 43 Prozent in den Niederlanden, 37 Prozent in der Schweiz und 28 Prozent in Dänemark.“ Diese Länder hätten, so der Bericht, ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöht und auf diese Weise offenbar für eine hohe Wachstumsdynamik gesorgt. Belegt wird das mit Wettbewerbsrankings des IMD (Institut für Management Development Lausanne).
Erstaunlicherweise schwenkt das Gremium nach diesem Ausflug in kleine europäische Länder sofort wieder um auf die ursprüngliche Vierergruppe mit den USA. Jetzt vergleicht man die Industrielle Wertschöpfung in Deutschland mit denen von Italien, Frankreich und den USA. Man konstatiert, wer könnte es bestreiten, einen Rückgang des Anteils der industriellen Wertschöpfung am BIP in Deutschland seit 2017 (Abbildung 2).
Abbildung 2

Nur, wo ist das Problem? Deutschland hat im Vergleich der vier Länder immer noch die bei weitem höchste industrielle Wertschöpfung. Zwar hat es zuletzt, in der Tat seit 2017, ein wenig verloren, aber das Niveau ist weiterhin einzigartig. Nur Italien war in den 1990er Jahren Deutschland in dieser Hinsicht ebenbürtig, aber es hat seit der Mitte der 2000er Jahre erheblich verloren.
Mehr als erstaunlich müsste für die Gutachter sein, dass die USA, die in allen Wettbewerbsrankings weit hinten liegen, ein hohes Leistungsbilanzdefizit aufweisen und deren industrielle Basis erodiert ist (was Trump heftig beklagt), bei der Bruttowertschöpfung, also beim Wachstum insgesamt (Abbildung rechte Seite), wahnsinnig gut abschneiden. Beeindruckend ist auch, dass Frankreich, das in Sachen industrielle Basis niedrig liegt und zudem verliert, beim Wachstum insgesamt mit Deutschland mithalten kann.
Viele interessante Fragen, aber keine Antworten aus libertärer Sicht. Weitet man den Blick ein wenig, sind die Antworten offensichtlich. Aber sie passen nicht ins libertäre Weltbild und werden daher unterdrückt. In Abbildung 3 sind alle die hier angesprochenen Länder mit ihren staatlichen Schuldenständen von 2010 bis 2024 aufgeführt. Zusätzlich haben wir (ich danke Erik Münster wieder für die gute Hilfe) die durchschnittlichen Leistungsbilanzsalden für die Jahre 2020 bis 2024 aufgeführt).
Abbildung 3

Für jeden unvoreingenommenen Betrachter ist es offensichtlich, dass die USA in diesem Bild der große „Sünder“ sind, dicht gefolgt von Frankreich. Beide Länder haben ihren staatlichen Schuldenstand seit 2010 fast durchweg erhöht. Frankreich hat allerdings nach Corona weit größere Anstrengungen unternommen, um seine Verschuldung nicht weiter zu erhöhen als die USA. Italien weist einen deutlichen Anstieg nach der globalen Finanzkrise auf, hat aber seit 2013 trotz des Corona-Schocks das Niveau sogar leicht verringert.
Den vier Ländern im unteren Teil des Bildes ist es gelungen, die Staatsverschuldung in Relation zum BIP von 2010 bis 2024 deutlich oder zumindest leicht (Schweiz) zu verringern. Wie war das möglich? Die Antwort ist einfach, kann aber von einem libertären oder neoliberalen Ökonomen niemals gegeben werden: Diesen vier Ländern ist es gelungen, über eine Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit (im Sinne absoluter Vorteile) den Handelspartnern Marktanteile abzujagen und so die Nachfragelücke zu schließen, die auch in diesen Ländern durch die Ersparnis von privaten Haushalten und Unternehmen entstanden ist. Diese Länder weisen alle hohe Leistungsbilanzüberschüsse auf (die Zahlen in Klammern zeigen das für den Durchschnitt der Jahre 2020 bis 2024).
In den Ländern, die notgedrungen auf der anderen Seite der Medaille stehen, in den Defizitländern, musste dagegen der Staat in die Lücke springen. Da es in der Welt keine Überschüsse in einer Gruppe geben kann, ohne Defizite in einer anderen, ist jede Analyse, die dieses Nullsummenspiel nicht thematisiert, neben der Sache. Internationale Vergleiche anzustellen, ohne den Merkantilismus der Überschussländer zu erwähnen und zu kritisieren, ist auf Manipulation ausgelegt und perfide. „Gutachten“ wie das der libertären Gruppe von Ministerin Reiche führen dazu, dass noch mehr als es ohnehin schon der Fall ist, einem blinden Merkantilismus das Wort geredet wird. Die weltwirtschaftliche und die europäische Lage wird unmittelbar dadurch destabilisiert, dass unbelehrbare Länder wie Deutschland und die kleinen nordischen Länder Europas nicht von diesem jahrhundertealten Holzpfad abspringen.
Die USA machen in Sachen Makrosteuerung alles richtig, weil sie mit ihrer Geldpolitik unmittelbar und explizit die Beschäftigung und die wirtschaftliche Entwicklung fördern (wie hier gezeigt) und mit der Finanzpolitik systematisch dafür sorgen, dass langanhaltende Schwächephasen wie derzeit in Deutschland nicht auftreten können.