Die Rezession setzt sich fort, die Arbeitslosigkeit steigt, aber die gesamte „Linke“ versteht nicht, wieso sie erneut über den Tisch gezogen wird 

Wenn Sie begreifen wollen, warum die Uhr der deutschen Wirtschaftspolitik so falsch tickt, müssen Sie nur die Überschriften anschauen, die vorgestern die deutschen Leidmedien zu zwei Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung verbreitet haben.

Das Handelsblatt schreibt am 30. September:

„Deutsche Inflationsrate steigt im September stärker

Das Leben in Deutschland verteuert sich für Konsumenten weiter. Die Inflationsrate steigt zum zweiten Mal in Folge im laufenden Jahr – und entfernt sich damit vom Zielwert der EZB.“

„Zahl der Arbeitslosen sinkt unter drei Millionen

Üblicherweise sind im September weniger Menschen arbeitslos, da die Urlaubszeit zu Ende ist und viele Ausbildungen beginnen. Das Muster bestätigt sich in diesem Jahr.“

Die erste Meldung ist zumindest irreführend. Richtig müsste es heißen: Die Inflationsrate (gemessen im Vergleich zum Vorjahr) ist im September etwas höher gewesen als im Vormonat, weil die Preise für Energie noch einmal weit weniger stark zurückgingen als zuvor. Für die EZB ist dieser Anstieg belanglos, sie richtet sich nur nach dem Durchschnitt aller EWU-Länder, der im September bei 2,2 Prozent lag (das wissen wir seit gestern, dem 1. Oktober). Auch kann die Zentralbank niemals die Inflationsrate exakt auf einem bestimmten Wert halten. Deutschland allein sagt gar nichts, die Inflationsrate in Frankreich und Italien liegt immer noch unter 2 Prozent. Solange es keine außergewöhnlichen Entwicklungen an der Lohnfront gibt, ist Inflation kein relevantes Thema.

Die zweite ist mehr als irreführend, weil der Saisoneffekt zwar indirekt erwähnt wird, das eigentliche Faktum aber nicht genannt wird. Richtig hätte es heißen müssen: Die Zahl der Arbeitslosen ist im September 2025 um 14 000 Personen deutlich gestiegen. Natürlich handelt es sich dabei um die saisonbereinigte Zahl, weil die Tatsache, dass im September in jedem Jahr die Ferien enden, keine Bedeutung hat. Auch die Zahl der offenen Stellen ist um 1000 gesunken. Das zeigt eindeutig, dass die wirtschaftliche Talfahrt bis zuletzt anhält. 

Das Statistische Bundesamt hat zudem in dieser Woche Zahlen über die Entwicklung der Erwerbstätigkeit veröffentlicht, die ebenso klar wie andere Indikatoren zeigen, das Deutschland seit Beginn des Jahres 2022 auf einem absteigenden Ast sitzt und seit Beginn des Jahres 2024 Stagnation zu verzeichnen ist. 

Seit dem Frühjahr 2022 ist in Deutschland die Zahl der Arbeitslosen um 600 000 gestiegen und die Zahl der offenen Stellen ist um 250 000 gesunken. Deutschland ist der klassischen Rezession, in die es 2022 hineingeraten ist, immer noch nicht entkommen. Zwar hat man in der amtlichen Statistik diese Rezession verschlafen (oder „übersehen“, siehe den Bericht hier), aber alle zentralen Indikatoren zeigen diese Rezession an. Doch das wird alles beiseite gewischt und mit geradezu lächerlichen Parolen verdeckt. Man muss nur einmal nachlesen, was der ordoliberale Lars Feld ins Feld führt, um jeden Gedanken an Nachfrage und an konjunkturelle Probleme im Keim zu ersticken, um zu verstehen, wie massiv die ideologische Auseinandersetzung ist, die von sogenannten Wissenschaftlern geführt wird. 

Ideologie statt ernsthafter Auseinandersetzung – und die SPD macht wieder mit

Würde man das Faktum steigender Arbeitslosigkeit zur Kenntnis nehmen, könnte man allerdings nicht weiter die Mär verbreiten, eines der größten Probleme Deutschlands sei die Weigerung einiger Bürgergeldempfänger, sich einen Job zu suchen. Diese Regierung will Menschen zwingen, Jobs anzunehmen, die es gar nicht gibt. Die Medien in Deutschland und der weitaus größte Teil der sogenannten Wirtschaftswissenschaft unterstützten allerdings diese Ideologisierung der wirtschaftlichen Phänomene vehement, so dass sich selbst die Parteien, die nach ihrem eigenen Verständnis Verteidiger des Sozialstaates sein sollten, nicht trauen, ernsthaft dagegenzuhalten. 

Wenn etwa die SPD-Spitze in Person von Bärbel Bas als Gegenposition zur CDU auf soziale Probleme beim Abbau des Sozialstaats verweist, hat sie schon verloren. Schon Anfang dieses Jahrhunderts hat Wolfgang Clement, das ist der Scheinsozialdemokrat, den Schröder zum Superminister bei Rot-Grün machte, die soziale Argumentation mit dem Satz ausgehebelt: Sozial ist, was Arbeit schafft. Was will Bärbel Bas dagegen vorbringen? Nur wer für die Öffentlichkeit verständlich argumentiert, dass Sozialabbau Arbeitsplätze kostet, kann eine ernstzunehmende Gegenposition aufbauen. Doch das kann die SPD nicht, weil sie sich schon seit mehr als 20 Jahren aus der Diskussion um alternative Wirtschaftskonzepte verabschiedet hat.

Warum versagt die europäische Wirtschaftspolitik?

Ich will nicht erneut über die fiskalischen Herausforderungen in Deutschland und in Europa reden, das habe ich schon so oft getan (hier zuletzt), aber auch Geldpolitik ist Politik. Warum gibt es keine Oppositionspartei, die auch hier einen alternativen Ansatz vertritt. Hätte Europa (wie es in den USA der Fall ist) eine Zentralbank, die gleichwertig für einen hohen Beschäftigungsstand und für eine niedrige Inflationsrate zu sorgen hat, müsste diese bei einer Arbeitslosenquote von über 6 Prozent in der EWU und der Gefahr einer Fortsetzung der wirtschaftlichen Schwäche unverzüglich handeln. 

Das schüfe auch für die Fiskalpolitik eine andere Welt. Wenn die Zentralbank die Zinsen auch konsequent für die Bekämpfung wirtschaftlicher Schwäche einsetzt, kann der Staat von vorneherein Argumente hinsichtlich der Gefahren für die Zinsentwicklung abwehren. Es ist in einem solchen Szenario auch klar, dass defensive Maßnahmen wie die Kürzung von Sozialleistungen und Druck auf die Löhne als Mittel der Wirtschaftspolitik tabu sind. 

Ist die Geldpolitik explizit Akteur bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, fallen viele „strukturelle“ Argumente, die in Deutschland bei Arbeitslosigkeit immer sofort aus der Kiste geholt werden, in sich zusammen. Hat die Geldpolitik den Auftrag, einen hohen Beschäftigungsstand zu sichern, ist das das Zugeständnis, dass der zentrale Mechanismus für die Bewältigung von Beschäftigungsschwächen nicht der „Arbeitsmarkt“ ist, sondern die wirtschaftliche Entwicklung, die Investitionstätigkeit und die Wirtschaftspolitik. 

Wer der Geldpolitik eine Rolle bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zuweist, macht vieles richtig. Wer die Geldpolitik vollkommen von der Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung freistellt, wie das in Europa der Fall ist, macht vieles falsch. Wer bei steigender Arbeitslosigkeit reflexartig den Gürtel enger schnallt und den Sozialstaat in den Fokus nimmt, liegt total daneben. Dass Deutschland ausschließlich die dritte Variante diskutiert, ist kein Zufall. Deutschland verharrt in ökonomischem Analphabetismus, weil seine Ökonomen schon vor vielen Jahrzehnten beschlossen haben, das Niveau der schwäbischen Hausfrau niemals zu verlassen.