Der Konservativen ist der Rechtsstaat heilig, aber nur, wenn er „richtig“ urteilt

Nikolaus Blome, Chefredakteur von NTV und Kolumnist im Spiegel, ist bekennender Konservativer – und natürlich ein Verteidiger des Rechtsstaates. „Heilig“ sei ihm als Konservativem sogar der Rechtsstaat – aber offenbar nur dann, wenn es zu seinen Vorurteilen passt. Richter haben dennoch nicht immer Recht, fühlt er sich bemüßigt zu bemerken, weil, wie könnte anders sein, das Berliner Verwaltungsgericht allen Konservativen und Rechten in Sachen Grenzschutz eine geistige Kopfnuss verpasst hat, von der sie sich nur schwer erholen (hier beschrieben).  

So war die politische Reaktion auf das Urteil rechts von der Mitte auch von Panik gekennzeichnet. Es sei eine Entscheidung über einen Einzelfall, was das erste Argument, das man aus der Tasche zog. Andere wussten, dass die Richter allesamt grün angehaucht sind und schon deswegen das Urteil keinen Bestand haben könnte. Die Dritten argumentierten, das Urteil sei zweifelhaft, weil die Somalier, um die es ging, man höre und staune, professionellen rechtlichen Beistand gehabt hätten. Kein Argument ist zu blöde, als dass man es in diesem Fall nicht gegen die Entscheidung eines unabhängigen Gerichts anführen könnte.

Inzwischen hat selbst Bundesinnenminister Dobrindt gemerkt, dass das mit dem Einzelfallurteil nicht stimmt und er auch in der Hauptsache vor diesem Gericht verlieren wird. Er verweist jetzt auf den Europäischen Gerichtshof, der ja letztlich entscheiden müsse – und sicher auch „richtig“ entscheiden werde. Aber auch das ist nur das berühmte Pfeifen im Walde. Alle ahnen, dass das Berliner Gericht vollkommen Recht hat und wollen nur Zeit gewinnen.  

Die von der CDU/CSU angestrebten Zurückweisungen sind eindeutig ein Verstoß gegen europäisches Recht. Schlimmer aber ist, dass sie, und das kann jeder Mensch mit Verstand ohne weiteres erkennen, ein Verstoß gegen ein elementares Menschenrecht sind, nämlich das Recht, nicht dadurch rechtlos zu werden, dass sich keine staatliche Institution für zuständig erklärt. Niemand, der einmal in das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts hineinschaut und seine fünf Sinne beisammen hat, kann das bestreiten. Dort steht wörtlich – und offenbar völlig losgelöst vom Einzelfall (S. 15):

„Anliegen des Dublin-Systems ist, eine sogenannte „refugee in orbit“-Situation zu vermeiden, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Mai 2021 – 1 C 39.20 – juris Rn. 15). Daraus ergibt sich als wesentlicher Grundzug, dass kein Mitgliedstaat eine rein negative Zuständigkeitsentscheidung treffen darf, sondern stets die Zuständigkeit des anderen Staates positiv begründen muss, bevor ein Asylsuchender auf die Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat verwiesen werden kann.“ 

Genau den „refugee in orbit“ (den Flüchtling im freien Raum) aber wollten CDU und CSU von Anfang an. Das war und ist das einzige und klar definierte Ziel der einseitigen Grenzkontrollen. Zurückweisen ohne wenn und aber. Deutschland will das Anliegen der Asylbewerber nicht prüfen, sondern es will ohne jede Prüfung zurückweisen, ganz gleich, was dann mit dem Asylbewerber passiert. Das einzige Zugeständnis, dass die CDU der SPD in den Koalitionsverhandlungen gemacht hat, ist, dass man mit den Nachbarländern reden will, um in der Frage womöglich einen Konsens zu erzielen. Deswegen ist Merz sehr bald nach Polen gereist. Doch auch das wird vom Gericht absolut überzeugend zurückgewiesen: 

„Die Geltung der Dublin-III-Verordnung und die damit verbundenen Pflichten lassen sich nicht durch bilaterale Vereinbarungen abbedingen. Es handelt sich um eine vom europäischen Gesetzgeber in Kraft gesetzte Verordnung, die nicht zur Disposition einzelner Mitgliedstaaten steht. Aus diesem Grund können sich aus dem „Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Zusammenarbeit der Polizei-, Grenz- und Zollbehörden“ vom 15. Mai 2014 (BGBl 2015 II S. 234) – entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin – keine abweichenden Rechtsgrundsätze ergeben (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Januar 2010 – C-546/07 – juris Rn. 42; VG München, Beschluss vom 4. Mai 2021 – M 22 E 21.30294 – juris Rn. 85 ff.).“ (S. 16)

Nur darum geht es. Und genau deswegen ist das Urteil so wichtig. Deutschland will für sich in Anspruch nehmen, was kein Staat dieser Welt in Anspruch nehmen darf, der sich Rechtsstaat nennt, nämlich Menschen (und es geht hier um Menschen!) die Möglichkeit zu nehmen, ihr Recht (mit sachverständiger Hilfe selbstverständlich) vor einem ordentlichen Gericht einzuklagen. 

Konservative, die behaupten, ihnen sei der Rechtsstaat heilig, sind mit allergrößter Vorsicht zu genießen. Im gleichen Atemzug behaupten sie nämlich, Deutschland könne sich über europäisches Recht hinwegsetzen und man könne Menschen den Rechtsschutz nehmen, indem man sie von einer Grenze zur anderen schiebt. Wenn sie schließlich im Rechtsstreit gegen den Rechtsstaat verlieren, haben sie unmittelbar das Geschäft der extremen Rechten betrieben, für die der Rechtsstaat keineswegs heilig ist. Weil sie zeigen wollen, dass sie genauso skrupellos sind wie die richtigen Rechten, sind die Konservativen bereit, den Rechtsstaat zu schleifen. Das ist nicht konservativ, das ist einfach dumm.