Dieser Tage nimmt eine 15-köpfige wissenschaftlich-politisch besetzte Kommission in Berlin ihre Arbeit auf, die Vorschläge dazu machen soll, ob und gegebenenfalls wie man die Schuldenbremse reformieren kann. Erstaunlicherweise ist unter den vom Bundesfinanzminister benannten 15 Personen keine einzige, die in ihrer wissenschaftlichen oder politischen Arbeit dadurch aufgefallen wäre, dass sie versucht hätte, den staatlichen Schuldensaldo als Teil eines größeren Zusammenhangs auf der Ebene der Volkswirtschaft zu analysieren und zu diskutieren.
Das ist mehr als erstaunlich. Wer den Staat und seinen Schuldensaldo in Isolation untersucht, unterstellt, der Staat habe keinen Einfluss auf die Volkswirtschaft insgesamt und von der Volkswirtschaft einschließlich des Außenhandels gingen keine Wirkungen auf den Staat aus. Das ist offensichtlich falsch. Gerade diejenigen, die beklagen, dass der Staat zu groß geworden ist und in allen Bereichen seine Macht ausspielt, unterstellen bei ihren finanzwissenschaftlichen Analysen, der Staat spiele keine Rolle. Umgekehrt ist der Einfluss noch offensichtlicher. Der Staat muss auf Verschlechterungen und Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage reagieren, weil seine Einnahmen und seine Ausgaben (und das Wahlergebnis der Politiker) davon unmittelbar abhängen.
Die beste und die logisch zwingende Art, den Staat und seinen Schuldenstand mit dem Rest der Volkswirtschaft zu verbinden, sind die sogenannten Finanzierungssalden. Sie zeigen quasi auf einen Blick, wie in der gesamten Volkswirtschaft und in der gesamten Welt Einnahme und Ausgabendefizite einzelner Sektoren miteinander zusammenhängen. Wer in dieser Welt einen Überschuss seiner Einnahmen gegenüber seinen Ausgaben erzielen will, wer also sparen will (also unter seinen Verhältnissen leben will), braucht irgendwo auf der Welt ein Gegenüber, das genau das Gegenteil tut, also mehr ausgibt als es einnimmt (also über seinen Verhältnissen lebt). Findet er dieses Gegenüber nicht, muss er seine Sparpläne kürzen oder das gesamtwirtschaftliche Einkommen (und sein Einkommen) sinkt so lange, dass er gezwungen ist, seine Sparpläne zu reduzieren.
Die Welt insgesamt kann immer nur so viel ausgeben wie sie einnimmt und, das ist die Seite, die viele nicht verstehen, sie kann auch nur so viel einnehmen, wie sie ausgibt. Die Welt kann weder unter noch über ihren Verhältnissen leben. Nur einzelne Länder können Überschüsse der Einnahmen über die Ausgaben aufweisen (Leistungsbilanzüberschüsse), denen zwingend Leistungsbilanzdefizite in anderen Ländern gegenüberstehen. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Sparpläne auf der einen Seite und die Bereitschaft, sich zu verschulden auf der anderen Seite, zu einer insgesamt zufriedenstellenden wirtschaftlichen Entwicklung führen. Das bedeutet, dass der Staat niemals auf eine rationale Art und Weise seine Schuldensituation einschätzen und bewerten kann, wenn er nicht weiß oder nicht beachtet, was bei den übrigen Sektoren passiert.
Die Deutsche Bundesbank berechnet schon seit den 1950er Jahren die Finanzierungssalden für Deutschland auf der Basis der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und anderer verfügbarer Indikatoren (allerdings unter totaler Missachtung durch die Behördenspitze). Die letzte Rechnung stammt vom Juni dieses Jahres und erfasst als letztes vorliegendes Ergebnis das Jahr 2024. Ich habe einmal versucht, die Salden auf eine andere Art und Weise darzustellen, so dass man auf einen Blick erkennen kann, dass Sparen und Schulden zwei Seiten der gleiche Medaille sind. Zugleich zeigen diese Bilder überdeutlich, dass sich der Staat niemals aus seiner Verbindung mit dem Rest der Wirtschaft herauslösen kann und dass jede Analyse, die das unterstellt, von vornherein sinnlos ist.
Die deutsche Schuldenbremse und die europäischen Schuldenregeln sind juristische Konstrukte, denen keine ökonomische Logik innewohnt. Beide führen systematisch zu fiskalpolitischen Aktionen, die Schaden anrichten oder nicht durchhaltbar sind, weil sie die entscheidende Aufgabe des Staates, nämlich die Wirtschaft zu stabilisieren, vollständig vernachlässigen.
Die deutschen Finanzierungssalden der letzten fünf Jahre zeigen, welch gewaltige Rolle die Verschuldung des Auslandes für die Stabilität der deutschen Wirtschaft gehabt hat. Im Jahr 2019 war das Ausland sogar der einzige Nettoschuldner. Weil die Verschuldung des Auslandes nicht ausgereicht hat, ist in all den Folgejahren der Staat eingesprungen, während die deutschen Unternehmen und die privaten Haushalte immer Nettosparer waren. Die weit verbreitete Anschauung der „Liberalen“ und der „Marktwirtschaftler“, wonach die Unternehmen dafür sorgen, dass aus Ersparnissen Investitionen werden, hat keine empirische Grundlage, sondern ist reine Ideologie.
Es ist offensichtlich, dass ein deutlicher Rückgang des deutschen Leistungsbilanzüberschusses, wie er sich für dieses Jahr andeutet, den Staat auf den Plan ruft – und zwar in einer Art und in einer Größe, die man in keinen vorformulierten Gesetzestext gießen kann. Daher kann es nur eine vernünftige Schlussfolgerung geben: Die deutsche Schuldenbremse und die europäischen Schuldenregeln müssen vollständig gestrichen und durch Regeln ersetzt werden, die explizit Bezug nehmen auf die Finanzierungssalden, denen sich jedes Land gegenübersieht.
Abbildungen: Die Finanzierungssalden Deutschlands von 2019 bis 2024 (in Mrd. €)






Quelle: Deutsche Bundesbank, Finanzierungsrechnung (Sektorale Finanzierungssalden), Stand: Juni 2025, S. 13;
Erik Münster hat mir dankenswerterweise geholfen, die Graphiken zu erstellen.