Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium, dem eine große Anzahl deutscher und deutschsprachiger Wissenschaftler angehört, hat in einem längeren Gutachten zur Weiterentwicklung der Schuldenbremse Stellung genommen (hier findet sich das Gutachten, an dessen Ende die Namen der Mitglieder aufgeführt sind). Die große Mehrzahl der Mitglieder sind Finanzwissenschaftler, also die Spezies von Ökonomen, die vorgibt, sich besonders gut mit dem Staat und dessen Finanzen auszukennen.
Finanzwissenschaftler sind zwar, wie ich erst vor Kurzem hier gezeigt habe, kundig, wenn es um die Verbuchung von staatlichen Ausgaben oder die Aufzählung der Aufgaben des Staates geht, sie wissen in der Regel jedoch nichts über die Einbettung des Staates in die relevanten volkswirtschaftlichen Zusammenhänge im nationalen und im internationalen Rahmen. Gleichwohl sind es Finanzwissenschaftler, die in der Debatte um das geeignete Rentensystem immer wieder zugunsten eines kapitalgedeckten Systems eingreifen, eines Systems also, bei dem es entscheidend darauf ankommt, dass man die finanziellen Zusammenhänge in einer Volkswirtschaft und zwischen den Volkswirtschaften versteht.
Die Logik von Sparen und Schulden kennen sie nicht
Für den typischen Finanzwissenschaftler gibt es keine unmittelbare Verbindung von Sparen und Verschulden. Das Wort „Sparen“ sucht man folglich im Gutachten vergeblich. Der Finanzwissenschaftler behandelt den Staat nicht anders als einen sehr groß geratenen Privathaushalt. Er fragt nicht nach den makroökonomischen Bedingungen, die für oder gegen das Verschulden des Staates sprechen, sondern er sucht nur nach haushaltspolitischen Kriterien, um zu entscheiden, ob die Schulden des Staates angemessen sind oder nicht.
Dass es für den Beirat keinen Zusammenhang zwischen Schulden des Staates und den gesamtwirtschaftlichen Finanzierungssalden gibt (hier wurde das Konzept dieser Salden zuletzt erklärt), belegt er in eindrucksvoller Weise, wenn er den „Zusammenhang zwischen Verschuldung, Infrastrukturqualität und Wettbewerbsfähigkeit im Ländervergleich“ in den Blick nimmt (Seite 19). Der Beirat stellt fest, dass es Länder wie beispielsweise die Niederlande, Dänemark und die Schweiz gibt, wo der Staat noch geringer als in Deutschland verschuldet ist und die dennoch bei der Wettbewerbsfähigkeit „besser aufgestellt“ sind als Deutschland. Wettbewerbsfähigkeit misst der Beirat allerdings an einem Ranking in dem „IMD World Competitiveness Index“, nicht aber an der Leistungsbilanz.
Das heißt, der offenkundige Zusammenhang zwischen Leistungsbilanzüberschüssen und Staatsverschuldung wird glatt übersehen, man konstruiert aber eine These bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit und den Staatsschulden in Ländern, die alle hohe Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen. Der wirklich aussagekräftige Vergleich mit den Ländern, die Defizite im Außenhandel verbuchen, unterbleibt.
Für Länder mit hohen öffentlichen Schuldenständen wie Frankreich, Italien und Spanien, fällt dem Beirat nur ein, darauf hinzuweisen, dass Länder, deren Schuldenstände schon über 90 Prozent liegen, größere Probleme haben werden, die neuen Fiskalregeln der EU umzusetzen. Selbst das Faktum, dass zu den Staaten, die weniger als 90 Prozent Schuldenstand haben, in der Gruppe der etablierten Industriestaaten ausschließlich Leistungsbilanzüberschussländer wie Deutschland und die Niederlande gehören, bringt kein Mitglied des Beirats auf die Idee, nach der logischen Verbindung von Leistungsbilanzüberschuss und Staatsdefizit zu fragen.
Die Niederlande als Vorbild?
Den Vogel schießt der Beirat jedoch ab, wenn er feststellt, dass es nach 2010 nur wenigen Volkswirtschaften gelungen ist, die staatliche Schuldenquote (also Staatsschulden in Relation zum BIP) zu reduzieren. Er schreibt:
„Die Trendwende nach 2010 fällt besonders im Vergleich zu den anderen großen Volkswirtschaften in der Währungsunion, wie etwa Frankreich, Spanien und Italien, und der G7, insbesondere den USA, auf …. Mit den Niederlanden gibt es eine weitere bedeutsame Volkswirtschaft im Euro-Raum, die ebenso wie Deutschland die Staatsschuldenquote deutlich reduziert hat …, wobei der Rückgang früher als in Deutschland und in größerem Umfang erfolgte. Die nationalen Regelungen in den Niederlanden sehen unter anderem eine Ausgabenobergrenze vor.“ (Seite 9)
Das ist wirklich unbeschreiblich! Wer Deutschland und die Niederlande als Beispiele für gelungene Begrenzung der Staatsschulden ansieht und die USA, Frankreich, Italien und Spanien als Gegenbeispiele nennt, ohne die jeweiligen Leistungsbilanzsalden zu erwähnen, beweist, dass er (oder sie) nichts, aber auch gar nichts von Volkswirtschaftslehre versteht.
Dass in den Niederlanden der Rückgang der Staatsschulden früher einsetzte und noch erfolgreicher war, ist klar, denn die Niederlande hatten sich viel früher als Deutschland mit Beggar-thy-neigbour-Politik Wettbewerbsvorteile und Leistungsbilanzüberschüsse verschafft. Das niederländische „Poldermodell“ war sogar das Vorbild für Deutschland, als es zu Anfang des Jahrhunderts seine merkantilistische Politik des Lohndumpings begann (wie hier belegt).
Ist St. Florian die Lösung?
Intellektuell überboten wird der Beirat nur noch von der FAZ, wo Rainer Hank sich in einer langen Suada zu den Staatschulden ergehen darf. Der findet doch tatsächlich raus, dass in den Ländern, wo die Schulden sprachlich mit Schuld zu tun haben, weniger staatliche Schulden gemacht werden. Wer ist es? Natürlich, die Niederlande, Deutschland, die Schweiz und Schweden (ebenfalls ein Land mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen seit Beginn der 1990er Jahre).
Die Schlussfolgerungen aus diesen „Analysen“ sind höchst interessant. Hier wird das St. Floriansprinzip („Heiliger Sankt Florian / Verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!“) in den Rang einer Handlungsanweisung für Staaten erhoben. Alle sollen offenbar Leistungsbilanzüberschüsse anstreben, damit sie wie die tugendhaften Länder Deutschland und die Niederlande ihre Staatschulden zurückfahren können. Das wäre zum Totlachen, wenn es nicht so ernste Konsequenzen hätte. Da können wir froh sein, dass es endlich einen Donald Trump gibt, der den Ländern mit Überschüssen im Außenhandel mit Gewalt die merkantilistischen Flausen austreibt.