Wie Europa in die Knie ging: Balanced Trade oder Merkantilismus?

(Dieser Artikel ist in einer etwas kürzeren Form gestern beim „Freitag“ online erschienen)

Viele wundern sich, dass die EU-Kommission in den Handelsgesprächen mit den USA so wenig erreicht hat. Man hätte doch, so klagt man allenthalben, mutiger auftreten und mit Gegenmaßnahmen drohen müssen. Wie konnte man nur hinnehmen, dass die Amerikaner Zölle erheben und die Europäer einfach nichts tun? Sind die Europäer Angsthasen?

Wer so denkt, weiß nichts über den internationalen Handel und urteilt so, als ob beide Seiten sich ohne weiteres auf Augenhöhe hätten begegnen können. Das ist ein Irrtum, von gleicher Augenhöhe kann nicht die Rede sein. Das liegt aber nicht nur an der schieren Macht der Amerikaner, das liegt auch in der Logik der Sache begründet. Man muss nur die beiden Dokumente, die auf beiden Seiten erschienen sind, vergleichen, dann weiß man Bescheid. Das Zauberwort ist „balanced trade“. Im amerikanischen fact sheet steht: „Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union haben ein Kooperationsabkommen über gegenseitigen, fairen und ausgewogenen Handel geschlossen.“ 

Im europäischen Gegendokument steht: „Am 27. Juli 2025 einigten sich die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und US-Präsident Donald J. Trump auf ein Abkommen über Zölle und Handel“. Kein Wort findet sich dort über ausgeglichenen und fairen Handel. Weil die Diskrepanz zwischen den Dokumenten so offensichtlich ist, kann ich Ihnen genau sagen, wie die Verhandlungen abgelaufen sind. Ich war zwar nicht dabei, aber die Logik erzählt uns, wie es gewesen sein muss. 

Die amerikanische Delegation betritt den Verhandlungsraum, wirft ein Bild an die Wand, das die Leistungsbilanzsalden der USA und Europas zeigt. Die USA haben riesige Defizite, Europa hat große Überschüsse. Der amerikanische Unterhändler sagt: Es ist ganz einfach: Wir haben Defizite, ihr habt Überschüsse. Wir wollen einen ausgeglichenen Handel („balanced trade“ sagt er wörtlich), aber was wollt ihr?

Ursula von der Leyen starrt auf ihren Sprechzettel, findet aber keine Antwort. Ja, was wollen die Europäer? Soll sie jetzt sagen, dass die Europäer noch hundert Jahre Überschüsse haben wollen? Was kann man gegen „balanced trade“ vorbringen? Versuchen die Europäer nicht selbst balanced trade in der Währungsunion zu erreichen? Gibt es nicht sogar Verfahren und Vorwürfe gegen Länder, die dauernd zu hohe Überschüsse aufweisen? Vielleicht wissen die Amerikaner das.

Noch bevor die Präsidentin der Kommission den Mund aufmachen kann, sagt der Amerikaner: Als intelligente Menschen und gute Ökonomen sind wir uns doch einig, dass Merkantilismus, der Versuch von Ländern und Regionen, sich durch dauernde Überschüsse im Handel auf Kosten der Handelspartner zu bereichern, in die Mottenkiste der Geschichte gehört. Das wissen wir schließlich schon seit 300 Jahren. Das sitzt.

Die Kommissionspräsidentin hat immer noch kein Wort gesagt, rappelt sich jetzt aber auf und stammelt: Aber bitte keine 30 Prozent, 15 Prozent sind ja auch nicht schlecht, wenn wir uns bemühen, in anderen Bereichen unseren amerikanischen Freunden entgegenzukommen. Gut, sagt der Amerikaner, machen wir 15 Prozent, ein paar hundert Milliarden an Direktinvestitionen, ein paar hundert Milliarden höhere Energieimporte und die Sache ist geritzt. 

Die Kommissionspräsidentin bedankt sich artig für diese großzügige Geste unter Freunden und bittet, dem lieben Donald die besten Wünsche auszurichten. Die Amerikaner verlassen den Raum, feixen und sagen, noch nie war es so einfach, die Europäer sprachlos zu machen.

Ich fürchte, auch nach dieser Lektion werden die meisten Europäer nicht begreifen, was die Stunde geschlagen hat. Merkantilismus halten sie für ein Wort, mit dem die man diejenigen beschimpft, die gegen den Freihandel sind. Aber nur ausgeglichener Handel kann auch fairer Handel sein. Wer dauernd Überschüsse hat, ist ohne Zweifel der Übeltäter.

Der Schweizer Bundespräsidentin ist es übrigens genauso ergangen wie der Kommissionspräsidentin. Auch sie glaubte, sie sei gut vorbereitet auf ein Telefonat mit Donald Trump gewesen und wurde kalt abserviert (wie hier beschrieben). Die Europäer in ihrem Überschusswahn begreifen nicht, dass sie kein Argument gegen den amerikanischen Vorwurf des Merkantilismus haben. Man kann sich einem mächtigen Partner nicht einfach gegenüberstellen und sagen: wir wollen einfach Überschüsse, weil wir schon immer Überschüsse haben. 

Um die Zölle zu vermeiden, hätten sich die Überschussländer zusammentun und den Amerikanern anbieten müssen, die Überschüsse auf eine für beide Seiten positive Weise, nämlich durch mehr Wachstum der Überschussländer abzubauen (wie hier gezeigt). Doch um eine solche Strategie auszuarbeiten, fehlt offenbar in all den beteiligten Administrationen die relevante ökonomische Expertise.