Dieser Artikel ist heute bei Telepolis erschienen
Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Das Handelsblatt hat erkannt, dass außenwirtschaftliche Überschüsse nicht zwangsläufig etwas Gutes sind. Obwohl sie „hierzulande lange als harter Leistungsnachweis deutscher Wettbewerbsfähigkeit“ galten, schreibt das Blatt, erzeugen die Überschüsse eines Landes zwangsläufig Defizite in anderen Ländern, die dadurch zudem in Schwierigkeiten geraten können. Bravo! Das ist – mit gut zwanzig Jahren Verspätung – endlich mal eine Erkenntnis, die Deutschland weiterbringt.
Mehr noch: auf einmal wird selbst in einem deutschen Leitmedium zugestanden, dass Deutschland auch in der EU als Problemfall galt. Welch ein glücklicher Zufall ist es da, dass ausgerechnet jetzt die EU Deutschland erstmals seit Jahren nicht nicht mehr wegen zu hoher Handelsüberschüsse als Problemfall einstuft. Der EU-Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis glaubt offenbar, dass Deutschland neue Staatsschulden dazu beitragen werden, den Leistungsbilanzüberschuss weiter zu senken. Deshalb sehe man nicht länger ein „makroökonomisches Ungleichgewicht“ in Deutschland. Auch hier eine revolutionäre Erkenntnis, die man in Brüssel bisher lieber für sich behalten hat.
Doch damit nicht genug: Um seine neue Einsicht in die Zusammenhänge zu unterstreichen, mutet das Handelsblatt seinen Lesern sogar die Tatsache zu, dass die deutschen Unternehmen seit der Jahrtausendwende zu Netto-Sparern geworden sind, die lieber Reserven aufbauen, anstatt zu investieren. Das ist geradezu revolutionär. Die deutschen Unternehmen sparen, die privaten Haushalte sparen und der Staat, so das Handelsblatt, konnte jahrelang eine schwarze Null schreiben, also auch sparen.
Ja, diese deutsche Sparorgie war nur deshalb möglich, weil Deutschland dafür gesorgt hatte, dass sich das Ausland Jahr für Jahr hoch verschuldet, um deutsche Exportgüter zu kaufen. Dass dieser einfache Zusammenhang in Deutschland 20 Jahre lang totgeschwiegen wurde, sagt natürlich niemand, obgleich es offensichtlich ist. Um die Analyse komplett zu machen, müsste man noch hinzufügen, dass es die von allen Parteien bejubelte Agendapolitik von Rot-Grün war, mit der man in der neu gegründeten Europäischen Währungsunion die Partner übers Ohr gehauen hat, weil denen vorgegaukelt wurde, man werde sich mit der Lohnpolitik an dem gemeinsam vereinbarten Inflationsziel ausrichten. Das war eine glatte Lüge.
Wie kommt man da raus?
Wie immer im Leben kommt man aus einer Misere so raus, wie man reingekommen ist, nur mit den umgekehrten Maßnahmen. Also Löhne rauf in Deutschland, alles auf Binnennachfrage setzen und dem Staat die Freiheit geben, für eine angemessene gesamtwirtschaftliche Dynamik zu sorgen, in dem er sich endgültig von seinen Sparversuchen verabschiedet. Für Europa muss das heißen, dass alle Länder von der Pflicht zur Einhaltung des Stabilitätspaktes entbunden werden, weil praktisch überall die Unternehmen – wie in Deutschland – zu Nettosparern geworden sind.
Verschwindet der deutsche Leistungsbilanzüberschuss, ist der Kontinent Europa exakt in der gleichen Lage wie die USA, er ist nämlich konfrontiert mit dem Ende der normalen Marktwirtschaft, wo die Unternehmen systematisch die Rolle des Schuldners übernommen hatten. Nun ist, wie die Abbildung klar zeigt, der Staat gefordert.

Wenn alle privaten Salden und der Außenhandelssaldo positive Werte aufweisen, kann logischerweise nur noch der Staat durch eigene Verschuldung die Wirtschaft vor einem Absturz bewahren. Man sieht es an der Graphik unmittelbar: Wann immer die privaten Sektoren verunsichert sind und ihre Ausgaben einschränken, wie etwa in der Corona-Krise, aber auch in der globalen Finanzkrise 2008/2009, muss der Staat sofort und massiv einsteigen, seine eigene Verschuldung erhöhen, die Nachfrage stimulieren und auf diese Weise die Wirtschaft am Laufen halten.
In den USA ist das gerade nach der Corona-Krise beeindruckend gelungen. Donald Trump wird sich, das zeigt sein Steuergesetz, nicht von den Bedenkenträgern in Sachen Staatsschulden aufhalten lassen. Und obwohl viele einzelne Maßnahmen dieses Gesetzes in Sachen Verteilung extrem problematisch sind, wird es doch zu einer erneuten Anregung der Wirtschaft führen, ohne die Solidität der amerikanischen Finanzpolitik grundsätzlich in Frage zu stellen.
Eine Kehrtwende in Europa ist unabdingbar
Europa und Deutschland müssen sich jetzt entscheiden. Es geht jedoch nicht darum, für die deutsche Wirtschaft den globalen Absatzmarkt durch den europäischen Markt zu ersetzen, sondern darum, für ganz Europa nachfrageseitig einen Aufschwung in Gang zu setzen und möglichst lange durchzuhalten.
Der Glaube, man könne einen Aufschwung auch durch Deregulierung, Bürokratieabbau oder auch die „Gründung einer echten Kapitalmarktunion“ (Jens Südekum) erreichen, ist naiv. Ganz gleich, wie hoch die Regulierungsdichte ist, ganz gleich, wie viele Handelshemmnisse es noch gibt, die Wirtschaft der Europäischen Union kann nur durch einen Nachfrageschub von Seiten des Staates aus der Lethargie geführt werden. Weil die Geldpolitik nach ihrer eigenen Einschätzung ihre Mittel schon weitgehend ausgereizt hat und folglich keine großen Zinssenkungen mehr erwartet werden können, gibt es jetzt nur noch die staatliche Aktion.
Wer glaubwürdig vom Export als alleiniger Treiber der deutschen Wirtschaft wegkommen will, muss sich der europäischen Ebene zuwenden. Aber nicht im Sinne der erneuten Verbesserung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den europäischen Handelspartnern, sondern im Sinne einer Befreiung der Fiskalpolitik in allen europäischen Ländern von den Fesseln des Stabilitätspaktes. Dieser „Pakt“ ist auf Drängen Deutschlands in letzter Sekunde in das Vertragswerk von Maastricht aufgenommen worden. Er hat dort aber nichts zu suchen. Begreift man in Deutschland nicht, dass dieser Kardinalfehler unter der Führung Deutschlands schleunigst korrigiert werden muss, wird auch die deutsche Wirtschaft nicht aus ihrer Schwächeposition herauskommen.