Zurückweisungen an den europäischen Grenzen: Was kümmert uns der Rechtsstaat, wenn wir Recht haben

Als Ende Januar dieses Jahres eine große Diskussion über Grenzschließungen innerhalb Europas losbrach, weil die Christdemokraten unter Führung von Friedrich Merz in Panik geraten waren, lag die SPD noch auf dem richtigen Kurs. In seiner sehr guten Regierungserklärung vom 29. Januar stellte der von der SPD gestellte Bundeskanzler klar, dass sich eine deutsche Regierung nicht offen gegen das EU-Recht positionieren dürfe.

Doch ein paar Wochen später ließ sich die SPD (wegen staatsbürgerlicher Pflichterfüllung!) exakt mit dem Mann in eine Koalition ein, der bereit war, das Europarecht leichtfertig mit Füßen zu treten. Die SPD ließ es sogar zu, dass die für ihren Umgang mit dem Europarecht berüchtigte CSU das Kommando im Bundesinnenministerium übernahm und sofort nach der Regierungsbildung das umsetzte, was nach Einschätzung der SPD ein klarer Verstoß gegen die europarechtlichen Regelungen der Migrationsströme war. Obwohl die SPD das Justizministerium besetzte, war von ihr dazu nichts zu hören.

Jetzt hat die gesamte Bundesregierung eine knallharte Quittung bekommen. Das Berliner Verwaltungsgericht hat in einem aufsehenerregenden Urteil (hier nachzulesen) unzweideutig festgestellt, dass die von Deutschland angestrebten „Zurückweisungen“ von asylsuchenden Menschen rechtswidrig sind, weil sie eindeutig gegen die europäischen Normen, die den deutschen übergeordnet sind, verstoßen. Auch für Laien lohnt es, die Kernsätze des Urteils nachzulesen. Im Verfassungsblog schreibt Maximilian Pichl dazu: „Das Gericht in Berlin hat zudem, was nicht häufig vorkommt, eine Vorwegnahme der Hauptsache aufgrund der hohen Erfolgsaussichten vorgenommen (S. 8 f., 28). In einem etwaigen Hauptsacheverfahren käme deswegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts anderes heraus.“

Und was macht der bayrische Bundesinnenminister? Stellt sich hin und sagt, das sei eine Einzelfallentscheidung, man mache einfach weiter. Doch eine Einzelfallentscheidung ist es genau nicht. Das Gericht entschied zwar über einen konkreten Fall, aber das Gericht hat sich gleichzeitig jede erdenkliche Mühe gegeben, um klarzustellen, dass die gesamt deutsche Konstruktion, die man sich zur Rechtfertigung der Zurückweisungen zusammengebastelt hat, hinfällig ist. Sogar die von der Regierung behauptete Notlage, mit der die deutsche Ausnahmeregelung begründet wird, findet vor dem Europarecht in den Augen der drei Richter keinerlei Gnade. Dazu noch einmal Pichl: „Der Beschluss ist hier sehr interessant, weil die gesamte medial inszenierte Argumentation der Regierung von einer Überlastung wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.“ 

So lernen wir also, dass der Bundesinnenminister Polizeibeamte auf eine Mission schickt, die – nun schwarz auf weiß durch ein Gerichtsurteil bestätigt – mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von den höchsten Gerichten (dem Europäischen Gerichtshof) als rechtswidrig eingestuft werden wird. Wir lernen jedoch auch, dass Gerichtsurteile einfach ignoriert werden, wenn sie der politischen Führung nicht passen. Schließlich lernen wir, dass sich die politische Elite in Deutschland weigert, die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen in der Europäischen Union ernst zu nehmen. Zu Europa bekennt man sich gerne, aber das gilt nur genau so lange, wie es den eigenen Interessen nicht im Weg steht. 

Schon die verheerenden Beschlussversuche, die Friedrich Merz im Januar angezettelt hat und mit Hilfe der AfD (und einiger anderer) durchsetzen wollte, haben gezeigt, dass mit CDU und CSU keine rationale europäische Politik zu machen ist (wie hier gezeigt). Dobrindt und Ko haben nicht einmal aus ihrem Maut-Debakel gelernt. Sie sind in ihrer bayrischen Enge einfach zu provinziell, um begreifen zu können, dass auch das stärkste Land in einem Kontinent wie Europa nicht einfach machen kann, was es will. Kooperation ist ihnen ein Graus und Unterordnung unter europäische Normen finden sie geradezu feige. 

Ich habe es schon oft gesagt (zuletzt hier), aber es ist offensichtlich, dass das höchste deutsche Gericht mit seinem verheerenden Urteil vom Mai 2020 (unter anderem in Szene gesetzt von Klägern mit CSU Hintergrund) für diese juristische Deutschtümelei die Tür weit geöffnet hat, weil es in all seiner Selbstherrlichkeit den Europäischen Gerichtshof als Laienspieler vorführen wollte. 

CDU und CSU müssen europäisch in die Schranken gewiesen werden. Hier hat die SPD ein Schlachtfeld vor sich, dessen Ausmaße sie wohl noch nicht einmal erahnt. Doch auch woanders ist es nicht viel besser. Von der Law-and Order Partei AfD muss man gar nicht reden, sie weiß nur, was Law and Order ist, wenn es in ihre kleine Welt passt. Aber auch eine Partei wie das BSW liebäugelte damit, dem Beschluss zu scharfen Grenzkontrollen und Zurückweisungen zuzustimmen, den Friedrich Merz im Januar durch den Bundestag jagen wollte. Das war eine grandiose Fehleinschätzung und hat der Partei, die ja als eine Stimme der Vernunft auftreten will, vielleicht die entscheidenden Stimmen gekostet.  

Wenn es in Deutschland eine Mehrheit gibt, der Europa nicht passt, dann sollte man konsequenterweise austreten. Großbritannien und der Brexit zeigen ja, wie toll man dann nach zehn Jahren dasteht.