Brexit oder die Freiheit, die ich gar nicht wollte

Der 23. Juni 2016 war ein großer Tag. Da entschieden sich fast 52 Prozent aller Engländer für die Freiheit. Sie stimmten für einen Austritt aus der Europäischen Union. Scharlatane wie der immer noch umtriebige Nigel Farage hatten dem Volk versprochen, der Austritt werde dem Land Tag für Tag sehr viel Geld sparen und es werde aufblühen, wenn es endlich die Fesseln der Brüsseler Bürokratie sprengt und sich im Freihandel mit anderen Nationen der Erde verbündet. Nationalisten und Libertäre in allen Ländern Europas jubelten angesichts dieses grandiosen Sieges der Vernunft über den Zwang zu internationaler Kooperation und malten Britanniens Zukunft in den schönsten Farben. 

Heute, neun Jahre später, verhandeln die Briten wieder mit Brüssel – und zwar fast täglich und ohne, dass ein Ende der Verhandlungen absehbar wäre. Es ist so gekommen, wie es ohne weiteres vorhersehbar war. Man musste aber seine nationalen Scheuklappen ablegen, wenn man es sehen wollte. Insbesondere die Tatsache, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit nicht verschwindet, wenn man die legalen Fesseln löst, hätte jedermann vorhersehen können. In diesen Tagen schreibt ein Leitartikler der Financial Times

„Großbritannien wird seine Beziehung zur EU niemals regeln können. Das Leben außerhalb der EU ist zu schwierig, weshalb kein anderer Mitgliedstaat ausgetreten ist. Das Leben innerhalb der EU ist jedoch ebenso schwierig, weshalb kein britischer Politiker der ersten Reihe einen vollständigen Wiedereintritt vorschlägt. Alles, was bleibt, sind endlose Anpassungen, wie jemand, der auf einem Stuhl hin und her rutscht, um eine illusorische bequeme Position zu finden.

Oder wie die Schweiz. Die Außenbeziehungen des neutralen Staates bestehen zu einem großen Teil aus fortlaufenden Gesprächen mit der EU: Jahrzehnt für Jahrzehnt und oft mit Zugeständnissen… Was auch immer dieser Premierminister in seinen Gesprächen erreicht, die europäische Diplomatie ist die Zukunft Großbritanniens. Sie wird mit der EU verhandeln, solange beide Einheiten existieren. Für die EU wird dieser Prozess nur einen kleinen Teil ihrer Gesamtarbeit ausmachen. Für Großbritannien wird er von zentraler Bedeutung sein, da jeder Schritt in Richtung des Clubs einen gewissen Verlust an Souveränität mit sich bringt und jeder Rückschritt mit erheblichen Kosten verbunden ist.“

Am 2. Juni 2016, also drei Wochen vor dem Referendum, schrieb ich in einem Artikel bei Makroskop

„Auf lange Frist wird sicher einiges anders, vor allem wird man aus Londoner Sicht, das, was in Brüssel passiert, ganz anders als bisher erleben, wenn man erst einmal wieder souverän und vollkommen frei ist. Man wird sich wie die Schweizer fühlen, die ja fest davon überzeugt sind, sie seien das freieste Volk der Erde, weil sie durch keine Verträge gebunden sind. Wobei „keine Verträge“ ja nicht so ganz stimmt. Die Schweiz verbindet mit der Europäischen Union ein Wust von Verträgen, den man üblicherweise die bilateralen Verträge nennt, weil auf der einen Seite die EU steht und auf der anderen Seite die Schweiz. Die allermeisten dieser bilateralen Verträge aber geben der Schweiz genau die Rechte und Pflichten, die auch Mitgliedsländer haben. 

Der entscheidende Unterschied zwischen den bilateralen Verträgen, die für die Schweiz bindend sind, und den multilateralen Verträgen, die für die Mitgliedsländer bindend sind, besteht darin, dass die Mitgliedsländer bei der Entscheidung über diese Verträge Sitz und Stimme in Brüssel hatten, während die Schweiz die allermeisten Regelungen nachträglich abnicken musste, weil sie als Ministaat im Verhältnis zu der riesigen EU nicht viel Verhandlungsmacht hat. 

So ähnlich wird es einem Großbritannien gehen, das austritt. Es wird in Brüssel permanent antichambrieren müssen, nur um in bilateralen Vereinbarungen genauso behandelt zu werden wie ein Mitgliedsstaat. Mit dem „kleinen“ Nachteil, dass es über europäische Vereinbarungen verhandelt, die gar nicht mehr verhandelbar sind, weil sie von den Mitgliedsländern längst beschlossen wurden und den Nicht-Mitgliedsländern nur noch vorgelegt werden nach dem Motto: Friss oder stirb. Das ist auch eine Art von Freiheit und vollkommen souverän ist man natürlich auch, zumindest fühlt es sich – nach Schweizer Art – so schön souverän an. 

Folglich wird die Europäische Union nicht an einem Nein der Briten zerbrechen. Zu weit sind die Briten von den zentralen Problemen in der Eurozone entfernt, als dass ihr Missfallen am europäischen Geiste den europäischen Körper gefährden könnte. Der 23. Juni ist kein Schicksalstag für Europa. Selbst wenn das Unwahrscheinliche passiert und die Briten für einen Ausstieg votieren, wird sich Europa nur kurz schütteln und weiter machen wie bisher. Die Gefahr für die Europäische Union kommt nicht von jenseits des Ärmelkanals, die Sollbruchstelle liegt, wie so oft schon in der Geschichte, am Rhein. Ein Gebilde wie die europäische Union bricht in der Mitte oder gar nicht.“