Ein Gastbeitrag von Joachim Nanninga
Wolfgang Münchau gehört im angelsächsischen Raum zu den gefragten Stimmen, wenn es makroökonomischen Erklärungsbedarf gibt. Er war bei dem Spiegel und der Financial Times präsent und ist Kolumnist des britischen New Statesman. Im Youtube-Kanal UnHerd hat er in einem Gespräch zur US-amerikanischen Zollpolitik Stellung genommen und sieht das Defizit-Land USA im Handelskrieg gegenüber den Überschuss-Ländern im Vorteil.
Ich will mich hier Münchaus „Erklärung“ der Leistungsbilanzsalden zuwenden: Der Freihandel könnte in einer idealen Welt gut funktionieren, wenn es keine Länder gäbe, die ein merkantilistisches Spiel betrieben. Münchau benennt die Länder China, Deutschland und auch Niederlande mit ihren merkantilistischen Wirtschaftspolitiken. Er erläutert, dass gerade deren persistente Überschüsse das Problem darstellten. Das bringe die USA in die Position mit ihren großen Defiziten gegenüber dem Rest der Welt…
„ … was mit dem Freihandel passiert ist. Dahinter verbergen sich jedoch einige andere, tiefere Ungleichgewichte, die tatsächlich viel beunruhigender sind. Und das ist ein Ungleichgewicht, das sich so ziemlich aufgebaut hat seit der globalen Finanzkrise, was schon vorher begann, aber seit der globalen Finanzkrise ist es sehr, sehr offensichtlich, dass die USA die Funktion erhielt, die weltweiten Sparüberschüsse aufzusaugen. Das ist vielleicht das Komplizierteste was ich heute sage, aber ich denke es ist wichtig… dann spart Deutschland mehr als es investiert, und die Vereinigten Staaten investieren mehr als sie sparen… Das war die ultimative Dynamik der Welt der Globalisierung, dass Amerika als Anker funktionierte, es war der Absorber von überschüssigen Ersparnissen und das Handelsdefizit war nicht einfach etwas, das passierte, es war das wesentliche Merkmal des Systems der Globalisierung“. Original in Englisch, eigene Übersetzung hier, ab ca.14. Minute
Hier ist Münchau trotz der aktivischen Metapher des „Aufsaugens“ nahe an der Argumentation von Marin, dem Autor des Mar-al-Lago-Papers, der die USA explizit in der weltwirtschaftlichen Opferrolle beschreibt.
Untersuchen wir also, was Münchau für ein tiefer liegendes, viel beunruhigenderes Ungleichgewicht hält und als einen besonders komplizierten Sachzusammenhang ausgibt. Es sind diese beiden Sätze:
Für den Leistungsbilanzüberschuss: Das Land spart mehr als es investiert.
Für das Leistungsbilanzdefizit: Das Land investiert mehr als es spart.
Wenn ich diese beiden Sätze auf die Schnelle erklären sollte, würde ich mich folgendermaßen ausdrücken, zunächst für das Überschuss-Land:
Ein Land dessen Vermögenssteigerung nicht ausschließlich in der Vermehrung seines Sachvermögens stattfand, muss auch sein Geldvermögen gesteigert haben. Da inländische Forderungen und Verbindlichkeiten sich auf null saldieren, muss ein Teil der Vermögenssteigerung im Verhältnis zum Ausland stattgefunden haben, also als Abbau der Auslandsschulden oder Vermehrung der Forderungen gegen das Ausland. Das Überschuss-Land kann ohne Forderungsaufbau gegen das Ausland die Gleichung S=I (Sparen=Investieren) nicht erfüllen. Zusammen mit dem Ausland gilt diese Gleichung dagegen trivial.
Der für das Defizit-Land geltende Satz wirkt womöglich weniger intuitiv:
Ein Land dessen Sachvermögensmehrung nicht ausschließlich als eigene Vermögenssteigerung stattfand, muss sein Geldvermögen gemindert haben. Da inländische Forderungen und Verbindlichkeiten sich auf null saldieren, muss eine eigene Sachvermögensmehrung mit zusätzlichen Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland einhergegangen sein, also als Abbau der Auslandforderungen oder Vermehrung der Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland. Auch hier gilt: Das Defizit-Land kann ohne zusätzliche Verbindlichkeiten gegen das Ausland die Gleichung S=I (Sparen=Investieren) nicht erfüllen. Zusammen mit dem Ausland gilt diese Gleichung dagegen trivial.
Wenn wir es aber genau wissen wollen, ob uns die beiden Grundsätze von Münchau einige andere, tiefere Ungleichgewichte offenbaren können, kommt es auf die beiden Begriffe „Sparen“ und „Investieren“ an. Ohne eine präzise Explikation ihrer Bedeutung lässt sich der Sinn und die Gültigkeit der beiden Grundsätze nicht prüfen.
Sparen, bedeutet hier nicht die ansonsten meist verwendete Begriffs-Version, mit der eine positive Differenz der Einnahmen und der Ausgaben in der betrachteten Periode bezeichnet wird. Es bedeutet hier also nicht eine positive Veränderung des Netto-Geldvermögens (NGV). Gemeint ist hier vielmehr eine positive Veränderung des gesamten Vermögens, das in der makroökonomischen Sprache auch „Reinvermögen“ (RV) genannt wird. Das Reinvermögen ist die Addition des Sachvermögens (SV) und des Nettogeldvermögens (NGV):
Definitionsgleichung: RV = SV + NGV (Bestandsgrößen)
Für den Periodenbetrag (Flussgröße) aller dieser Größen ist das Deltazeichen üblich. Der Veränderungsbetrag der Periode für das Netto-Geldvermögen ist folgendermaßen definiert:
Definitionsgleichung: 𝛥NGV = NGV tn – NGV tn-1 (Flußgröße)
Wenn man z. B. vom Nettogeldvermögen am Jahresende das Nettogeldvermögen vom Jahresbeginn abzieht, hat man den Veränderungsbetrag der Jahresperiode.
Bevor wir formalisiert notieren, was ein Leistungsbilanzdefizit und was ein Leistungsbilanzüberschuss ist, noch ein Blick auf den Begriff „Investieren“. In der formalisierten Sprache der Makroökonomie ist es der Veränderungsbetrag des Sachvermögens:
Definitionsgleichung: 𝛥SV = SV tn – SV tn-1 (Flußgröße)
Nun können wir für den Satz „Das Land spart mehr als es investiert.“, also für den Zustand, dass die Periode einen Leistungsbilanzüberschuss hatte, schreiben:
Leistungsbilanzüberschuss =: 𝛥RV > 𝛥SV
Umgekehrt für den Satz „Das Land investiert mehr als es spart.“, also für den Zustand, dass die Periode einen Leistungsbilanzdefizit ergab:
Leistungsbilanzdefizit =: 𝛥RV < 𝛥SV
Was hier von Wolfgang Münchau als „tiefere Ungleichgewichte, die tatsächlich viel beunruhigender sind“ bezeichnet wird, entpuppt sich als schlichte Umformulierung der trivialen Definition, dass jeder ein Leistungsbilanzdefizit hat, der in der Periode mehr ausgegeben als eingenommen hat. (Für den Überschuss entsprechend umgekehrt.) Durch einfache Umstellungen der obigen Ungleichungen zeigt sich dies sofort, wenn wir entsprechend der Definition von RV (Reinvermögen) = SV + NGV (Sachvermögen + Nettogeldvermögen) für RV die Definition einsetzen. Für das Leistungsbilanzdefizit ergibt sich dann:
𝛥SV + 𝛥NGV < 𝛥SV
Indem wir auf beiden Seiten der Ungleichung 𝛥SV abziehen ergibt sich:
Leistungsbilanzdefizit: 𝛥NGV < 0
Für den Leistungsbilanzüberschuss ergibt sich entsprechend:
𝛥NGV > 0
Ein Leistungsbilanzdefizit hat also jeder, dessen Periode einen negativen Betrag des Netto-Geldvermögens ergab, der also höhere Ausgaben als Einnahmen hatte. Die Aussage „Das Land investiert mehr als es spart“ ist lediglich eine verklausulierte, logisch aber identische Ausdrucksform dafür. Es ist ein Irrweg, darin eine tiefere Einsicht in die Ursachen für Ungleichgewichte im internationalen Leistungsverkehr suchen zu wollen.